Drive und Kontrolle

Auf dem Moers Festival zieht

Paal Nilssen-Love die Fäden

Jazzmusiker definieren sich gerne über Listen, mit welchen Kolleginnen und Kollegen spiele ich? Je länger die Auflistung, desto anerkannter der Musiker, der Schlagzeuger Paul Lovens, einer der großen Stilisten des freien Jazz, nennt sie »Vermögen«.


Man muss sich Paal Nilssen-Love als sehr vermögenden Mann vorstellen: Seit Ende der 90er Jahre ist er eine feste Größe der norwegischen, skandinavischen, europäischen und weltweiten Szene der Improvisatoren. Er ackert sich durch alle Spielarten des Free Jazz, spielt in festen Gruppen und in zahllosen Adhoc-Ensembles und seine Liste, in der sich bereits Peter Brötzmann, Mats Gustafsson, Ken Vandermark, aber auch der Schmusejazzer Pat Metheny und der einstige Todesmetaller James Plotkin eingetragen haben, wird länger und länger. Nach dem diesjährigen Moers Festival wird er den genialen Dilettanten Arto Lindsay aufgenommen haben. Mit ihm bestreitet er in der Moerser Festivalhalle ein Duo.
Dabei ist der bald 40-Jährige weder ein außergewöhnlicher Stilist noch ein virtuoser Überflieger. Es gibt keinen »Nilssen-Love-Sound«, darin unterscheidet er sich von der ersten Generation der Free-Jazz-Schlagzeuger, die fast obsessiv an ihrem Sound als einer untrüglichen Trademark tüftelten. Nilssen-Love zeichnet eine hellwache, superschnelle Reaktionsfähigkeit aus, wer mit ihm spielt, weiß einen Partner an seiner Seite, der alle Spielzüge mit einem Vorsprung von, sagen wir, einer Zehntelsekunde antizipiert. Nilssen-Love trägt den Flow, schmiegt sich an seine Mitspieler an und kann dann, aus der symbiotischen Interaktion heraus, einen Drive entwickeln, der das Spiel noch mal nach vorne drückt, ihm einen entscheidenden Schub verleiht. Nilssen-Love ist der mannschaftsdienliche Spieler, der aus dem Hintergrund alle Fäden zieht. Er beschleunigt und  bremst, und alle hören auf ihn, seine Kontrolle ist stets subtil. Wer so spielt, kann auf Klangmätzchen souverän verzichten, Nilssen-Love bevorzugt dementsprechend ein ganz normales, eher noch abgespecktes Drumset.


Demnächst wird es also Arto Lindsay sein, der sich dem sanften Druck des Norwegers beugt. Höhepunkt seines diesjährigen Moers-Auftrittes dürfte aber die Deutschland-Premiere seiner Large Unit sein: Nilssen-Love hat zehn junge norwegische Musiker zusammengetrommelt (ja, das darf man so sagen), für die er Kompositionen geschrieben hat, in denen er seine Idee von Drive im großen Maßstab ausprobiert. Tatsächlich klingt die Large Unit strukturierter als seine Duos und Trios. Aber dass seine Musik auch im Großformat mitreißend wird in ihrer Mischung aus Unberechbarkeit und Vertrauen, daran besteht kein Zweifel.