»Ich bin nicht anders, ich hatte es aber anders«

Vom 24. bis 26. Juni haben die Wohnungslosen Kölns eine Ombudsfrau gewählt: die 61-jährige Olper Franziskanerin Alexa Weißmüller. Yvonne Greiner hat sie gefragt, wie sie zur Vertrauensperson der Wohnungslosen wurde und worin sie ihre Aufgabe sieht.

Schon ein anderes Erscheinungsbild reicht oft aus, damit Wohnungslose, Punks, aber auch ausländisch aussehende Menschen einen Platzverweis für den Hauptbahnhof kassieren. Für derlei Maßnahmen sind der Bundesgrenzschutz (BGS) sowie der private Sicherheitsdienst der Bahn zuständig. Die Idee einer Ombudsperson entstand während einer Podiumsdiskussion im Kölner Domforum im Oktober 2002. Der Arbeitskreis Umbruch – bestehend aus Fachleuten der Wohnungslosenhilfe aus Praxis und Hochschule – hatte sie veranstaltet, um auf die schwierige Situation im renovierten Bahnhof aufmerksam zu machen.
Zur Konfliktlösung sollen nun regelmäßige Treffen beitragen zwischen Schwester Alexa, die die Wohnungslosen mit 80 Prozent der Stimmen gewählt haben, dem Kölner Leiter des BGS, Nobert Skalski, sowie einem Vertreter der Bahn. Die jedoch hatte bis zur Pressekonferenz am 27. Juni niemanden benannt. Seit diesem Tag erfasst der AK Umbruch über ein täglich besetztes Telefon die Beschwerden der Obdachlosen, die genauen Geschehnisse werden in einem standardisierten Fragebogen festgehalten. Die Treffen sollen der Aufklärung der Vorfälle dienen, die Beteiligten erhoffen sich einen Rückgang der Konflikte.


StadtRevue: Wie lange arbeiten Sie schon mit Wohnungslosen?


Schwester Alexa: Zehn Jahre, das heißt offiziell noch nicht so lange. Seit sieben Jahren bin ich beim Generalvikariat als Obdachlosenseelsorgerin angestellt und teile mir eine Stelle mit Pater Hermann-Josef Schlepütz. Die ersten Jahre habe ich das mehr als freischaffende Künstlerin gemacht, unterstützt von meiner Ordensgemeinschaft. Ich bin ja zufällig da hineingeraten.


Zufällig hineingeraten?


Wir, also drei Schwestern, sind 1993 hier in das Haus in der Victoriastraße eingezogen. In der letzten Bauphase bin ich schon nach Köln gezogen. Ich hatte noch vier Wochen Zeit und bin systematisch das Viertel abgelaufen, um zu sehen, in welcher Umgebung wir wohnen werden. Über den Eigelstein bin ich gegangen und durch den Klingelpützpark. Dort hab ich die ersten Obdachlosen getroffen. Ich habe sie gegrüßt, sie haben zurück gegrüßt, waren aber offenbar erstaunt, dass sie jemand grüßt. Wir kamen schnell ins Gespräch. Ob ich morgen wiederkäme, haben sie mich gefragt. Und ich habe ja gesagt, ich hatte Zeit. Jedesmal wenn ich in den Park kam, saßen da mehr Leute, es hatte sich herumgesprochen, dass ich regelmäßig dort war. Sie haben mir dann ihre Orte in der Stadt gezeigt.


Freuen Sie sich über das eindeutige Wahlergebnis von 80 Prozent?


Ja, ganz einfach deshalb, weil es eine Vetrauensbasis für meine Arbeit ist. Aber ich freue mich mindestens genauso über die große Zahl der Wähler: 510 Stimmen. Damit hat keiner von uns gerechnet.


Was ist der Grund für die hohe Wahlbeteiligung?


Vielleicht die Tatsache, dass die Obdachlosen überhaupt mal irgendwo mitreden, bestimmen dürfen. Aber auch das Thema: Der Ärger im Hauptbahnhof war für Viele ein drängendes Problem.


Was ist derzeit das größte Problem im Hauptbahnhof?


Das grundsätzliche Problem ist die Vertreibung – ein Wort, das die Verantwortlichen nicht gerne hören. Aber wir nennen es trotzdem so, denn die Wohnungslosen werden weggeschickt. Doch für die meisten ist der Bahnhof der Lebensmittelpunkt, sozusagen ihr Wohnzimmer.


Warum?


Da ist Leben, da trifft man andere, da kann man betteln. Doch im Zuge der Renovierung sollte aus dem Bahnhof eine saubere Einkaufsmeile werden. In dieses Bild passen die Obdachlosen nicht. Dazu kommt noch die Frage, ob der Bahnhof ein öffentlicher Raum ist oder nicht, das wissen selbst Juristen nicht genau. Herr Mehdorn von der Bahn jedenfalls fordert, die Bahnhöfe müssten sauber gehalten werden. Es werden nicht nur Wohnungslose festgehalten oder weggeschickt, sondern auch ausländische Mitbürger.


Wie wollen Sie dagegen vorgehen?


Herr Skalski vom BGS hat auf Beschwerden hin immer wieder gesagt, er würde den Vorfällen nachgehen, doch dazu bräuchte er genauere Informationen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man den Betroffenen einfach nicht glaubt. Wir werden ab jetzt die Beschwerden telefonisch entgegennehmen und in einem Fragebogen festhalten. Dann kommt eine Kopie des Fragebogens zu mir und eine geht an die entsprechende Stelle bei Bahn und BGS. Unsere Idee ist, dass wir uns einmal im Monat mit Bahn und BGS treffen und die Unterlagen auswerten. Wir werden prüfen, ob es Auffälligkeiten gibt. Bei Vorfällen müssen die Beamten zwar nicht ihren Namen, auf jeden Fall aber ihre Dienstnummer angeben, so dass sie identifizierbar sind. Wir haben die Hoffnung, dass sich die Fälle verringern.


Wie können Sie denn vermitteln? Sie sind doch parteiisch.


Ich möchte nicht mit der Bahn oder mit dem BGS streiten, das liegt mir fern. Wir möchten einfach, dass Menschen ihre Rechte in Anspruch nehmen können. Darüber will ich mit den Beteiligten verhandeln.


Wie bewerten Sie die Tatsache, dass die Bahn keinen Vertreter benannt hat?


Wir wissen nicht, warum die Bahn nicht gekommen ist, vielleicht gefällt ihnen das Konzept nicht.


Aber Sie werden weiterhin versuchen, mit der Bahn Kontakt aufzunehmen?


Ja, natürlich. Es hat im Vorfeld schon Gespräche gegeben. Da waren Herr Skalski vom BGS und der damalige Bahnhofsmanager dabei, der sagte, er müsse sich erst rückversichern und würde sich melden. Das hat er aber nie getan, wir haben immer wieder versucht ihn zu erreichen. Zwischenzeitlich gibt es einen neuen Bahnhofsmanager, aber der ist nicht zur Pressekonferenz erschienen.


Haben die Wohnungslosen auch Schwierigkeiten mit dem privaten Sicherheitsdienst der Bahn?


Ja. Ärger gibt es auch mit der Bahnschutzgesellschaft. Aber wir können erst etwas Verlässliches sagen, wenn wir genügend Fälle dokumentiert haben.


Sie haben am Anfang erzählt, dass es für Sie überraschend war, plötzlich mit Obdachlosen zu tun zu haben. Warum sind Sie dabei geblieben?


Am Anfang hatte ich die etwas wahnwitzige Vorstellung, etwas verändern zu können. Aber ich habe schnell gemerkt, dass das der falsche Dampfer ist. Denn ich weiß nicht, was für die Leute gut ist, meistens wissen sie es ja selbst nicht. Ein Außenstehender kann das überhaupt nicht beurteilen. Das hat bei mir ein Ohnmachtsgefühl ausgelöst: Jetzt engagierst du dich, aber alle trinken weiter, und nichts ändert sich. Das Ohnmachtsgefühl habe ich nach wie vor, aber es hat eine andere Farbe bekommen. Inzwischen denke ich, es ist gut, dass ich mich ohnmächtig fühle. Dann fühle ich mich wenigstens nicht größer oder klüger. Ich bilde mir nicht mehr ein, dass ich etwas verändere. Ich habe auch gar nicht mehr den Wunsch. Und ich muss das Gottseidank auch nicht. Wenn die Wohnungslosen in Einrichtungen oder Beratungsstellen gehen, dann gibt es ja oft Auflagen, die Gespräche zu dokumentieren oder sie zu anderen Stellen oder Behörden zu schicken. Ich muss die Obdachlosen nirgendwo hinschicken, die müssen mir überhaupt nichts sagen. Deshalb erzählen sie eben alles, weil sie wissen, dass ich mit den Informationen nichts anfangen kann und will, dass nichts dokumentiert wird – egal ob mir der Obdachlose gerade erzählt, wieviel Geld er woher kriegt.


Die Leute müssen auch nicht zu Ihnen kommen, Sie gehen auf die Straße?


Ja. Das ist bewusst so. Manchmal kommen sie mir aber schon an der Straßenecke entgegen. Einer sagt, er müsse unbedingt mit mir reden, packt mich an der Hand, geht mit mir um den ganzen Block und erzählt völlig belanglose Dinge. Am Anfang war ich noch so dumm zu sagen: Das kannst du mir doch auch da vorne sagen. Aber das kann er eben nicht da vorne sagen, wo andere Leute dabei sind. Für diese Menschen ist es ein Luxus, jemanden eine Viertelstunde ganz für sich alleine zu haben. So etwas kann man nicht aus Büchern lernen. Ich habe viel Zeit gebraucht, viele Dinge zu begreifen.


Das heißt, auch Sie haben sich verändert in der Arbeit mit den Obdachlosen?


Ich habe viel gelernt und viel Schönes und Wahrhaftiges erlebt. Ich bin keine Märtyrerin und hätte längst aufgehört, wenn es nur schwer wäre. Im Laufe der Zeit habe ich einen Satz verstanden, den mir mal ein Gefängnispfarrer gesagt hat: Ich bin nicht anders als die, ich hatte es aber anders. Für mich sind Obdachlose Menschen wie alle anderen, die hatten nur ein bisschen Pech. Und es gibt überhaupt keinen Grund, sich über diese Leute zu erheben. Das kann jedem passieren, ich habe viele Leute – aus allen sozialen Schichten – in kurzer Zeit abstürzen sehen. Wenn man das verstanden hat, verändert man die eigene Haltung. Es geht eben nicht darum, Mitleid zu haben mit den Armen oder Dummen oder den Trinkern – oder welche Attribute es da gibt. Die meisten, die auf der Straße leben, wollen dort weg, auch die, die sagen: Ich will so leben. Manchmal glaube ich, sie machen sich etwas vor. Das kann nämlich kein Mensch aushalten – immer zu wissen, dass man es nicht schafft, von der Straße wegzukommen. Wenn Sie dieselben Leute, die sagen, dass sie auf der Straße leben wollen, unvorbereitet nach ihrem größten Wunsch fragen, dann sagen sie: eine Wohnung. Einige gehen aber aus Wohnungen wieder raus, weil sie vereinsamen, denn sie dürfen ihre Freunde nicht mitbringen. Unter Umständen müssen sie auch die Treppe putzen oder den Keller aufräumen, das sind alles Dinge, die sie gar nicht mehr können. Wenn man 15 Jahre auf der Straße lebt, dann ist es ein Kunststück zu wohnen.