Foto: Manfred Wegener

»Der blutet so’n bisschen«

Corpsgeist und Zynismus bei der Polizei? Im Prozess um den Todesfall Stephan Neisius offenbaren sich bedenkliche Strukturen

Der erste Angeklagte, der vor dem Kölner Landgericht aussagt, wirkt unsicher. Er schwitzt, und nicht nur das: Er zeigt Verzweiflung, er war doch gerne Polizist, jetzt droht ihm sogar eine Haftstrafe: »Ich habe doch gar nichts anderes gelernt«. Doch in der Sache bleibt er hart: Ja, gibt er zu, er habe einmal zugeschlagen, auf die kurze Rippe, aus Notwehr, nachdem der gefesselte Stephan Neisius ihn getreten habe. »Schutzschlag« nennt er das. Das soll in der Zelle auf der Eigelsteinwache gewesen sein, keine Rede von den Schlägen in der Eingangsschleuse der Wache, die die Zeugen der Anklage gesehen haben wollen. Und einen der anderen Kollegen bei Schlägen beobachtet oder erkannt habe er erst recht nicht. Ja, er habe per Funk ein »Empfangskommando« bestellt, doch das bedeute lediglich die Bitte um Unterstützung, nicht aber die Verabredung zu Gruppenkeile.

»Blendschläge« gegen das Jochbein

Die Auftritte der anderen Angeklagten verlaufen individuell anders, aber im Ergebnis ähnlich: Da wird von einem »Ablenkungstritt gegen die Hüfte« gesprochen, damit man gefahrlos über den Gefesselten steigen konnte, »Blendschläge« gegen das Jochbein, »aber nur, um den Widerstand zu brechen«. Gewalttätige Übergriffe, beteiligte Kollegen, Namen? Niemanden erkannt, nur Uniformen. Immerhin rief einer den Rettungswagen, denn »der blutet so’n bisschen«, wie im Funkmitschnitt zu hören ist. Zeugen sprechen von einer fünf bis 15 Zentimeter breiten Blutspur vom Eingang bis zur Zelle.
Der Widerstand des an Händen auf dem Rücken und an den Beinen mehrfach gefesselten und auf dem Boden der Eingangsschleuse liegenden Stephan Neisius war angeblich so heftig, dass in dem Tumult kein Polizist den anderen erkannte – als wären Dutzende dabei gewesen. Doch es waren weniger als zehn in der Schicht.

Abschottung und Ausgrenzung

»Corpsgeist« ist ein Schlüsselwort der polis-Studie der Fernuniversität Hagen vom letzten Sommer. polis entstand im Auftrag des Innenministeriums NRW und schildert die Erfahrungen der Polizisten der Polizeiinspektion Köln 1, die die Innenstadtwachen Kalk, Eigelstein, Südstadt und Bismarckstraße umfasst. »Das engmaschige Netz der kleinen Gruppe«, so die Studie, »begünstigt oft ein Wir-Ihr-Denken. Mitunter können sich kleine Gruppen als Cliquen nach außen abschotten, nach innen normierend und bevormundend wirken sowie Abweichler drangsalieren. Wer sich dem Corpsgeist verweigert, ist dann schnell außen vor.«
So wie einer der Zeugen der Anklage, ein Ex-Polizeibeamter, der am fraglichen Abend das Geschehen beobachtete und von »SS-Methoden« sprach: »Ich bin sozial völlig isoliert, habe keine Freunde mehr«. Ausgeschlossen haben ihn auf jeden Fall die rund 60 Polizeibeamten in Zivil im Saalpublikum, die ihre Haltung nicht verhehlen: Schulterklopfen für die Angeklagten, feixende Kommentare zu belastenden Aussagen, überall demonstratives Selbstbewusstsein, jedoch kein Wort des Bedauerns, kein Mitleid mit dem Opfer oder seiner Familie, keine Scham, im Gegenteil eher nachträgliche Ausgrenzung.

Der Bürger als »polizeiliches Gegenüber«

So spricht der Angeklagte Dennis G. angewidert von dem Geruch »verwesenden Essens in der Wohnung des Opfers«, von der angeblich verwahrlosten Mutter, von Spritzen überall. Für ihn sei das ein Drogen-Fall gewesen, obwohl es sich tatsächlich um Thrombosespritzen handelte. »Und als Polizist in Köln haben Sie vor nichts mehr Angst und Ekel, als sich mit HIV oder Hepatitis bei einem Junkie anzustecken.« Und der laut Dennis G. »Ekel erregende, hysterische und aggressive Irre« wird dann eben nicht als eventuell akuter Psychotiker medizinischer Versorgung zugeführt, wie es notwendig wäre. Stattdessen setzten die Beamten Pfefferspray gegen Stephan Neisius ein, fesselten, fixierten und schlugen ihn.
»Die Struktur der Polizei verleitet zu Übergriffen, weil es keinerlei Entlastungsmöglichkeiten gibt. Körperverletzung im Amt darf nicht vorkommen, angeblich sind die Dienstregeln lückenlos. In der Realität sind die meist jungen Beamten dann oft überfordert«, erklärt Gerda Maibach, Diplompsychologin und Autorin. Sie hatte bereits 1996 mit dem Buch »Polizisten und Gewalt. Innenansichten aus dem Polizeialltag« für Aufsehen gesorgt. Polizisten vermissten die Anerkennung der Öffentlichkeit für den harten Job und fühlten sich deshalb nicht zugehörig zur übrigen Bevölkerung: »Sie sprechen vom Bürger als ›polizeilichem Gegenüber‹, erleben sich selber aber nicht als Bürger, sondern als Vertreter von Macht und Autorität.«

Geschlossenes System Wache

Sieben Millionen Überstunden machen PolizistInnen in NRW pro Jahr, die Ausrüstung ist mies, vom Burn-Out-Syndrom ist die Rede: »Eine gewalttätige oder verbale Entladung passiert dann oft bei Personen mit geringer Beschwerdemacht«, sagt Maibach. Sie fordert, die geschlossenen Systeme der Wachen aufzubrechen und polizeifremde Fachkräfte auf den Wachen einzusetzen, z.B. ausgebildete psychiatrische Pfleger oder geschulte Berater. »Doch alles, was heuer eingesetzt oder reformiert wird, läuft innerhalb der Polizeistrukturen, und so kann sich da einfach nichts ändern«, resümiert sie. Zumal laut polis-Studie nahezu die Hälfte der BeamtInnen der Meinung ist: »Die höhere Führung weiß gar nicht, wie es bei uns aussieht und kümmert sich auch nicht sonderlich um uns.«