Ein Quantum Zeit

»Die Mauer ist weg. Die Mauer ist weg? Egal welchen

Sender ich einstelle, ich höre überall das selbe. Die Mauer ist weg. Alle sind überglücklich. Sie sagen, dass sie es nicht glauben können und dass sie nie dachten, das noch mal zu erleben. Unglaublich. Zu den Jubelschreien stimmen sie eine Hymne an, die in der Aussage mündet: Wir sind das Volk. Als ich ins Fernsehen sehe, spielen sich ähnliche Szenen ab. Eine Unmenge von Menschen, die durch die Straßen zieht, sich teilweise in den Armen liegt und immer wieder fast schon ekstatisch schreit: ›Die Mauer ist weg‹. Oder: ›Wir sind das Volk.‹ Vor lauter ›Die Mauer ist weg‹ und ›Wir sind das Volk‹ hatte ich ganz und gar das Fenster vergessen. Sollte es wirklich so sein, wie es das Fernsehen, das Radio und die Zeitungen berichten? Dass die Mauer weg ist? Ich wollte es nicht so recht glauben, weshalb ich auf den Stuhl stieg, um mit eigenen Augen zu sehen, ob es stimmt, was sie sagen. Was ich sah, war mir sehr vertraut: Eine Fensterbank voller Taubenscheiße, ein Gitter, von dem die Farbe bröckelt. Und — ich hatte zu Recht Zweifel — die Mauer. Sie war nicht weg, wir waren nicht das Volk, und das Ganze muss wohl ein Traum gewesen sein.«

(Helmut Poschner, »Mauerfall«)

Für ihren Film »Von der Beraubung der Zeit« haben sich der Kölner Fotograf Jörn Neumann und StadtRevue-Mitarbeiter Daniel Poštrak in eine den meisten Menschen vollkommen unbekannte Parallelwelt begeben: das Gefängnis. Fast vier Jahre lang haben die beiden Filmemacher sich mit Kenny Berger, Helmut Poschner und Samuel Conley getroffen. Drei Menschen, die langjährige Haftstrafen verbüßen. Drei Menschen, die ihr Leben im Gefängnis zu Papier bringen und für den Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene nominiert waren. Herausgekommen ist ein stiller, beobachtender Film, der die Sinnhaftigkeit von Haft in Frage stellt.

 


Herr Neumann, Herr Poštrak, Sie verzichten in ihrem Film weitgehend auf Erklärungen, sondern lassen vor allem die drei Protagonisten zu Wort kommen. Was wollten Sie für einen Film machen?

 


Poštrak: Wir wollen die Realität der Menschen im Gefängnis darstellen, in einer weitgehend unbekannten Parallelwelt, und wir wollen der Frage auf den Grund gehen, was das eigentlich ist, das Gefängnis. Wir fordern eine gesellschaftliche Auseinandersetzung, denn das Gefängnis ist gesellschaftlich sehr wirkmächtig. Es gibt aber kein oder nur ein sehr geringes Bewusstsein darüber, wo es ansetzt, wie es funktioniert. Die meisten sehen es als Notwendigkeit an, aber niemand setzt sich damit auseinander.

 


Neumann: Als wir mit dem Projekt angefangen haben, gab es gerade große Diskussionen um die Sicherungsverwahrung. Da war das Gefängnis viel mehr Thema als jetzt. Aber auch damals gab es immer nur eine tagespolitische Thematisierung. Grundsätzliche Fragen sind nie gestellt worden.

 


Was sind die grundsätzlichen Fragen?

 


Poštrak: Die grundsätzliche Frage ist die nach dem Zusammenhang von Schuld und Zeit. Es geht bei Haftstrafen um Zeitentzug. Ein Mensch ist abgewichen von einer gesellschaftlich definierten Norm. Es gibt eine formulierte Art, damit umzugehen, und das ist die Haftstrafe: dem Menschen wird auf eine bestimmte oder unbestimmte Zeit seine Lebenszeit entzogen und als etwas Fremdverwaltetes gegenübergestellt. Scheinbar eine sehr rationale Überlegung. Ein Quantum Schuld — wie auch immer das be­stimmt werden soll — wird gleichgesetzt mit einem Quantum Zeit, mit der die Schuld bezahlt werden kann. Der Politologe Wolf-Dieter Narr spricht in diesem Zusammenhang von Strafzeit-Taylorismus. Der Gefangene wird aufs Band gesetzt und runter genommen, wenn seine Zeit — seiner Strafe entsprechend — abgelaufen ist. Das wird ganz exakt mit der Stoppuhr gemessen und erfährt dadurch eine Scheinrationalität. Dabei werden die Menschen schlicht von der Gesellschaft abgeriegelt. Eine formulierte Aufgabe des Gefängnisses ist aber die sogenannte Resozialisierung. Die Leute sollen ermächtigt werden an einem geregelten gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Das sieht dann so aus, dass kurz vor der Entlassung Maßnahmen ergriffen werden, wo man wieder ­lernen soll, wie man einkaufen geht oder einen Fahrscheinautomaten benutzt.  

 


Den Menschen wird Zeit genommen, aber dadurch natürlich noch vielmehr. Erinnerungen werden genommen, oder besser: neue, individuelle Erinnerungen verhindert. Oder Körperlichkeit: Berührungen sind allesamt negativ behaftet, als Durchsuchen, Abtasten, Filzen. »Der Knast greift nach mir«, sagt einer der Protagonisten.

 


Poštrak: Das Gefängnis gilt als die humane Art des Strafens. Im soziologischen Sinne ist es aber eine totale Institution. Man wird 24 Stunden in einem geschlossenen System kontrolliert. Es umfasst alle Lebensbereiche, schreibt sich ins Denken ein, reicht bis in die Träume. Trotzdem versuchen die Menschen, in dieser subjektfeindlichen Umgebung als Individuen zu bestehen. Die Gleichschaltung hat zum Glück Grenzen, ist brüchig. Auch der freie Wille wird genommen — es gibt schlicht nichts zu entscheiden im Gefängnis für die Insassen.

 


Neumann: Die ganz wenigen Möglichkeiten, doch über seine Zeit zu entscheiden, spielen eine enorm wichtige Rolle. Das haben wir auch gemerkt: Wenn mal einer unserer Termine mit den Terminen der Inhaftierten selbst kollidierte, haben die sehr empfindlich reagiert.

 


Was bedeuteten die Filmarbeiten für die Insassen? Ist das eine Art Verbindung nach draußen?

 


Neumann: Anfänglich war das eine willkommene Abwechslung, für ein oder zwei Stunden aus dem Haftalltag auszubrechen. Das hat sich aber mit den Jahren auch verändert, ist intensiver geworden. Man kann nicht sagen, dass wir Freunde geworden sind. Dafür fehlt die Alltäglichkeit. Aber es hat sich etwas entwickelt. Die haben auch viel von uns gelernt, wir haben auch erzählt, was in unseren Leben so los ist.

 


Bei aller Beidseitigkeit wird aber auch ein gewisser Voyeurismus bedient, oder?

 


Poštrak: Natürlich, es ist ein dokumentarischer Film, der mit der Aura des Unbekannten spielt. Wir rücken etwas, das sonst nicht beachtet ist, in den Fokus. Das mag etwas Voyeuristisches mit sich bringen. Aber in dieser Auseinandersetzung wird ja gerade das Geheimnisvolle aufgelöst. Es gibt von je her eine voyeuristische Faszination für Schwerverbrecher. Die erste Reaktion der Menschen, denen ich von dem Film erzählt habe, war häufig die ­Fra­­­ge nach den Taten der Protagonisten. War das für Sie von Beginn an klar, auch die Taten zu thematisieren?

 


Poštrak: Nein. Die Frage, ob Zeitentzug das richtige Instrument ist, um mit Abweichungen umzugehen, wollten wir ganz prinzipiell abhandeln. Deswegen haben wir anfangs gesagt, wir wollen die Tat nicht thematisieren. Uns geht es primär nicht um persönliche Geschichten, sondern um das Prinzip Gefängnis. Diese Straftaten stellen eine Zuspitzung von Biografien dar. Die Geschichte beginnt nicht dort, sondern viel früher, und erfährt dann lediglich ihren traurigen Höhepunkt.

 


Neumann: Wir möchten aber auch nicht, dass da diese Leerstelle bleibt. Die Frage nach der Tat kommt einfach immer wieder. Deswegen haben wir entschieden: wir sagen das, und das war es dann. Dann kann man sich wieder auf das Wesentliche des Films konzentrieren. Aber es ist auch drin, weil es für die Inhaftierten eine Rolle spielt. Die machen sich da natürlich jeden Tag Gedanken drüber. Und da schließt sich dann auch wieder der Kreis: »Meine Schuld kann ich mit Zeit nicht bezahlen«, sagt einer.

 


Sie haben mit Menschen gearbeitet, die seit 30 oder fast 40 Jahren im Gefängnis sind. Ist das überhaupt greifbar?

 


Neumann: Die Anthologien des Ingeborg-Drewitz-Literaturpreises für Gefangene erscheinen alle drei Jahre. In jeder Anthologie seit 1992 war einer unserer Protagonisten mit ein oder zwei Geschichten vertreten. Die haben uns sehr gefesselt, wir waren uns aber sicher, dass er mittlerweile nicht mehr im Knast ist. Wir mussten dann erschüttert feststellen, dass er immer noch im Knast ist. Und zwar schon viel länger. Er wurde 1977 in der damaligen DDR inhaftiert.

 


Poštrak: Er kennt die BRD nur aus dem Fernsehen.