Das Programm der Internatio-nalen Stummfilmtage Bonn ist außerordentlich vielseitig. Es arbeitet sich nicht am Kanon ab, sondern setzt auf Neugierde. Einige Evergreens, etwa von Alfred Hitchcock und Charlie Chaplin, finden sich hier zwar durchaus, daneben aber gibt es Raritäten aus der Tschechoslowakei und Katalonien zu entdecken, und man kann herausfinden, was es mit dem wunderbar betitelten Animationsfilm »Die Entdeckung Wiens am Nordpol« auf sich hat.

Außerdem kann man gleich zwei Kinodiven aus China kennenlernen. Ruan Lingyu ist bis heute eine der bekanntesten Figuren der chinesischen Filmgeschichte, nicht zuletzt aufgrund ihrer tragischen Biografie: Auf dem Höhepunkt ihres Ruhms nahm sich die Schauspielerin 1935 das Leben — mit gerade einmal 24 Jahren. In »Die Göttin«, einem ihrer letzten Filme, brilliert sie als von Zuhältern und gesellschaftlicher Ignoranz gebeutelte Prostituierte, die ihr ganzes Leben ihrem Sohn widmet. Im umwerfenden Abenteuerfilm »Das Blut der Liebe« hingegen, einer frühen Arbeit des Meisterregisseurs Sun Yu, bringt die heute zwar weitgehend unbekannte, aber deswegen nicht weniger spektakuläre Li Lili die Männer mithilfe aufreizender Tänze solange zur Weißglut, bis die sich, in einem delirierenden Groschenheftfinale sondergleichen, gegenseitig in brodelnde Vulkane schubsen.

Die goldene Ära des chinesischen Stummfilms, eines hochdramatischen, vielseitigen, dynamischen Kinos, das in den frühen 1930er Jahren in den Filmstudios Shanghais entstand, gehört nach wie vor zu den bestgehüteten Geheimnissen der Kinogeschichte. Die Filme dieser Phase bilden einerseits die Euphorie ab, die eine sich mit rapider Geschwindigkeit modernisierende Gesellschaft erfasst; andererseits geben sie Zeugnis von den individuellen Schmerzen, die dieselbe Modernisierung mit sich bringt. Diese Ambivalenz kristallisiert sich immer wieder in den vielen eindrucksvollen Frauenfiguren des chinesischen Stummfilms. Aus dieser Perspektive bilden die energisch-vitale Li Lili und die melancholische Dulderin Ruan Lingyu die beiden Pole, zwischen denen sich eine ganze Epoche abbildet. Alle Filme werden wie immer umsonst unter freiem Himmel gezeigt und von exzellenter Livemusik begleitet.