»Dies als Gruß für meinen Nachfolger: Dranbleiben!«

175 Jahre Kölnischer Kunstverein: Ein E-Mail-Interview mit dem legendären Kurator und Kunstvermittler Wulf Herzogenrath

1973 wurden Sie Direktor des Kölnischen Kunstvereins: Sie waren 28 Jahre alt, die Kunst in Köln stand am Anfang einer rasanten Entwicklung. Was war das für eine Zeit und welche Rolle spielte dabei der Kunstverein?

 

 

Kaum einer kann sich noch die traurige Lage damals vorstellen: In Köln lebten kaum Künstler, die, die hier lebten wie Hann Trier, Hubert Berke oder Georg Meistermann, waren woanders Professoren. Mit Bernard Schultze kam 1968 der erste prominente Künstler. Es dauerte, bis Michael Buthe, Rune Mields und all die vielen kamen, die wir heute gern als Kölner bezeichnen – Marcel Odenbach, Rosemarie Trockel, Astrid Klein, Ulrike Rosenbach, Klaus vom Bruch, ganz zu schweigen von Sigmar Polke und Gerhard Richter. Die Galerieszene war lebendig,  der Kunstmarkt glänzte, aber die Museumslandschaft begann erst langsam attraktiv zu werden, die Kunsthalle veranstaltete »Ars Multiplicata« und »JETZT«. Aber der Kunstverein hatte knapp 100.000 Mark Schulden (bei einem städt. Zuschuss von 140.000) und war höchst unattraktiv, genau deshalb erhielt so ein junger Mann wie ich die Chance.

 


In Ihrer 17-jährigen Amtszeit haben Sie neben wichtigen Fluxus-Aktionen vor allem der damals völlig neuen Medienkunst eine Bühne geboten. 1976 war im Kölnischen Kunstverein die erste Einzelausstellung von Nam June Paik in Europa zu sehen. Kann ein Kunstverein heute noch solche Pionierarbeit leisten? Was ist anders?

 

 

Es gibt heute nicht nur ein hoch attraktives Museum Ludwig, eine reiche Galerienlandschaft, sondern auch interessante neue Institutionen als Aktiva in der Szene: die Sparkassen (Sander-Archiv, Kollwitz-Museum!), Produzentengalerien, eine Kunsthochschule für Medien, ein sehr spezielles, großartiges Haus wie Kolumba und vieles mehr. Für den Kunstverein ist das Terrain wesentlich schmaler geworden und schwieriger zu bespielen als vor dreißig Jahren, wo man sogar Aufgaben des Museums übernehmen konnte (Aufarbeitung von DADA, den Progressiven und Bauhaus, weil das nirgendwo stattfand!) und im aktuellen Feld neben dem Museum Ludwig der einzige Player war. Da war es attraktiv, die Neue Musik einzubeziehen und die Tradition in Köln von 1960 (Atelier Mary Bauermeister) fortzusetzen und die internationale Medienkunst darzustellen. Aber auch die skurrilen Sammlungen nicht nur von Kunstwerken, sondern von besessenen Sammlern als eine der urmenschlichen Tätigkeiten und Wünsche darzustellen. Es ging um die Frage: Was heben wir auf und warum sammeln wir etwas? Die wahnsinnige Alltags-Objekte-Sammlung aus den 50er bis 70er Jahren von Hermann Götting, einem stadtbekannten Original (nicht nur wegen seiner sechs großen Hunde und dreißig Katzen!) wurde 1985 eine der erfolgreichsten Ausstellungen nicht nur beim Publikum.

 


Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie heute auf den Kunstbetrieb und den Kölnischen Kunstverein schauen?

 

 

Der Raum in der ehemaligen »Brücke« an der Hahnenstraße vom Architekten Riphahn hat eine vergleichbare Form wie die alten Räume an der Cäcilienstraße: etwas zu niedrig, aber interessante Wechsel von Wand und Glasflächen, außerdem vielfältig zu bespielen. Der Kunstbetrieb ist so vielschichtig, es ist schon eine wunderbare Aufgabe, heute den Kunstverein zu positionieren!

 


Ihre liebste Anekdote?

 

 

Vielleicht eine schöne wahre Geschichte aus der Historie: In meinem ersten Jahr im Kunstverein ging ich zum Kulturdezernenten Kurt Hackenberg und erzählte ihm von meiner tollen Idee und bat um einen Projektzuschuss. Er blaffte mich an: »Lesen Sie keine Zeitung? Wieso kommen Sie denn jetzt mit einer Frage nach mehr Geld, wir haben doch überhaupt nichts. Vor drei Jahren, da hätten Sie kommen sollen, da war alles besser!« Ich schaute konsterniert, ich war doch ganz neu. Dann zwinkerte er und sagte: »Junger Mann, merken sie sich eins: Diesen Satz werden Sie ihr Leben lang hören - aber glauben Sie ihn jetzt so wenig wie in Zukunft. Der stimmt immer und nie. Wenn sie eine Idee wirklich realisieren wollen, dann schaffen sie das schon.« Es stimmt - vierzig Jahre lang scheint die Zeit immer vor drei Jahren besser gewesen zu sein -, und trotzdem wurde viel HEUTE realisiert. Dies als Gruß für meinen Nachfolger: Dranbleiben! Es sind immer gute Zeiten für gute Projekte!

 

 

Wulf Herzogenrath
geboren 1944 in Rathenow/Mark Brandenburg, lebt heute als freier Kurator
in Berlin und ist Direktor der Sektion
Bildende Kunst der Akademie der Künste Berlin. 1973 bis 1989 leitete er den
Kölnischen Kunstverein; 1980 gründete er mit Kollegen die »Arbeitsgemeinschaft deutscher Kunstvereine« (bis 1990 erster Vorsitzender). 1977 und 1980 Mitarbeit an der documenta 6 und 8; 1989 bis 1994 Hauptkustos der Berliner National­galerie; 1994–2012 Direktor der Kunsthalle Bremen.