Kult um die hässliche Ratte

Melvins-Mastermind King Buzzo hat

nach dreißig Jahren Metal-Avantgardismus

sein Solodebüt veröffentlicht. Zeit für

einen Rückblick

Kalifornien, September 1990. Ewig dröhnte die Sonne. Irgendwie über-redete ich den großen King Buzzo, Chef der Melvins, Gitarrist und Herrscher über Raum und Schall, mich im Tourbus von San Francisco nach Los Angeles mitzunehmen. Dort spielten die Melvins zusammen mit Poison Idea und den Dwarves in einer Spelunke namens Country Club. In jeder Hinsicht ein einschneidendes Ereignis.

 

Die ersten beiden Melvins-Alben »Gluey Porch Treatments« und »Ozma« gehörten zu meinen größten Aha-Erlebnissen in Sachen schwerer, kluger Rock. Brachial, dräuend, punktgenau, verspielt, überraschend, sarkastisch. Eine Art Post-Punk-Variante von Black Sabbath. Unfassbar, dass diese Band tatsächlich existierte. Noch unfassbarer, dass ich in diesem Augenblick mit ihnen am malerischen Pacific Highway entlangzuckelte. In wenigen Stunden sollte ich erleben, dass sie live noch mehr Wucht und Schmackes drauf hatten als auf ihren Alben. Stichwort: Konzerte, die Du nie vergisst.

 

Dennoch: Kurz vor Los Angeles hing der Tour-Segen schief. Wir passierten gerade den maroden Vergnügungspark, in dem die Band Kiss ihren Film »Attack of The Phantoms« runtergekurbelt hatte. Buzzo fragte mich scheinheilig, wie mir denn dieser Meilenstein der Musikunterhaltung gefallen hatte. Natürlich war ich blöde genug, meine ehrliche Meinung zu sagen. Darauf Kiss-Fan Buzzo: »Raus aus dem Bus!« Spaß oder Ernst? Tja.

 

Buzz Osborne war im Spät-sommer 1990 eh nicht gut auf Musikjournalisten zu sprechen. Kurz zuvor hatte der Schreiber eines britischen Magazins, der von der Plattenfirma extra für einen großen Melvins-Report in die USA eingeflogen worden war, seinen Fokus plötzlich auf Buzzos Labelkollegen Nirvana verschoben. Für die hatte Melvins-Schlagzeuger Dale Crover ab und an ausgeholfen. Nirvanas Sänger, ein gewisser Kurt C., war großer Melvins-Fan. Und während Nirvana in den frühen 90ern ein wenig bekannter werden sollte, bis ein Todesfall ihre aktive Laufbahn abrupt beendete, so machten King Buzzo und Dale einfach unbeirrt mit den Melvins weiter.

 

Jahr für Jahr, Tour für Tour, Album für Album. Das Bassisten-Karussell drehte sich. Man wechselte von Indie zum Major. Und zurück zu den Indies. Aber das Kern-Duo Buzzo/Dale blieb unverwüstlich. Und ihre herzerwärmen-de Leck-mich-Einstellung auch. Wir liefen uns des öfteren über den Weg. Meist in Köln für Spex oder die TV-Sendung WahWah (Viva/Viva Zwei). Dort waren sie neben Mouse On Mars und Beck die absoluten Lieblingsgäste der Redaktion. Sie waren die einzigen, die kein Blatt vor dem Mund nahmen. Vor ihrer herzerfrischenden Kollegenschelte waren weder die Großverdiener des Alternative Rocks noch ehemalige Wegbegleiter sicher. Als die Melvins zeitgleich zum stadtweiten »Sendung mit der Maus«-Fest im damaligen Prime Club spielten, fragte King Buzzo verwundert: »Was hat das mit dem Kult um diese hässlichen Ratte auf sich?«

 

Auf dem Branchenführer allmusicguide.com werden die Melvins dreisterweise als »interessante Fußnote« der Rockgeschich-te kleingeschrieben. Nun ja. Mehr als dreißig Alben, unzählige Singles, diverse Kooperationen mit anderen Musikern von Mike Patton bis Jello Biafra sowie mehr als 2000 Konzerte haben weltweit tiefe Schleifspuren im Gefüge vieler Musiker und Musikfreunde hinterlassen. Selbst Wikipedia drückt es positiver aus: Die Melvins sind ihre eigene Nische. Eine Nische, die sämtliche Schubladen wie Sludge, Grunge, Stoner, Doom oder Drone überstrahlt. 

 

Und jetzt: King Buzzos erstes Akustik-Solo-Album »This Machine Kills Artists«. Ein großer Spaß. Sowohl für eingefleischte Melvins-Fans als auch für Gelegenheitshörer, die sich vielleicht auf Dauer vom massiven Gebratze der offiziellen Alben abschrecken lassen.Die Stücke sind kurz und energiegeladen. Kein balladeskes Geplinker, sondern locker hingeworfene Akustik-Klopper. Eigentlich ganz ähnlich wie ein gutes, kompaktes, reguläres Melvins-Album. Nur ohne Strom und Schlagzeug.

 

Die Aufnahmen fanden mit Buzzos unersetzbarer rot-weiß-blauen Buck Owens American Akustik-Gitarre statt. Ein so liebes, rares Sammlerstück, das der King sie beim Touren schweren Herzens durch ein chinesisches Imitat ersetzen muss: »Vielleicht pinsele ich die an. Damit es keiner merkt!« Erklärtes Ziel von Akustik-Buzzo: Bloß nicht klingen wie eine lendenlahme Schrumpel-Fassung von James Taylor oder Woodie Guthrie. Geht ja auch gar nicht. Buzzo ist Buzzo. Und wer schon mal gesehen hat, mit was für einer kriminellen Lässigkeit der King seine Gitarre mitsamt seiner bananenbaum-artigen Großhaartolle während seiner Konzerte schwingt, der kann nur ahnen: Selbst ohne Verstärker wird da gerockt bis zum Anschlag. Von »Drunken Baby« über »How I became offensive« bis zu »Useless King of the Punks«: Über allem schimmert Buzzos exzentrische Handschrift und sein verquerer Humor. Das dürfte im wunderbar passenden Gebäude 9 mehr als spannend werden. Und natürlich könnte man sich vergleichbare Gigs schon auf einschlägigen Video-Plattformen anschauen. Aber ich möchte mich wieder überraschen und plätten lassen. So wie vor 25 Jahren.