Mehr Bauchspeck, mehr Tattoos, mehr Kinos

Bollywood ist mittlerweile auch im Westen ein Begriff. Doch die riesige indische Filmindustrie besteht nicht nur aus den Studios der Hauptstadt Bombay. Über die Unterschiede zwischen Bollywood und Kollywood, dem tamilischen Filmzentrum im Süden Indiens.

Man könnte mit den etwa sieben bis 15 Kilo Speck beginnen, die Filmstars aus dem südindischen Bundesstaat Tamil Nadu durchschnittlich mehr auf die Waage bringen als ihre gottgleichen Kollegen aus Bombay. Doch dabei liefe man Gefahr, sich im Sumpf von Celebrity-Tratsch der indischen Kinowelt zu verlieren – und am Ende gar nicht bis zu den eigentlichen Unterschieden zwischen Bollywood- und Kollywood-Filmen vorzudringen – letztere benannt nach Kodambakkam, einem Stadtteil von Chennai.

Ein direkterer Weg zum Wesen dieses »regional cinema« führt zunächst hinaus aus dem Kino, zu den Fans, die in Tamil Nadu ungleich besser organisiert sind als im restlichen Indien – und noch leidenschaftlicher als im Norden ihre Idole verehren. Das ist keine willkürliche Behauptung, sondern eine mit konkreten Zahlen belegbare Tatsache. Es beginnt mit der Anzahl der Kinos: in Tamil Nadu standen bei der letzten statistischen Erhebung 8.800 von insgesamt 13.000 indischen Filmtheatern. Man könnte aber auch die enorme Verbreitung von Starporträt-Tattoos auf den Bäuchen ihrer Fans als Beweis anführen oder die gewaltigen Berge von Geschenken, wenn die Stars Geburtstag haben. Oder, um auf die tragische Dimension des Ganzen zu sprechen zu kommen: auf die Anzahl der Selbstmorde, wenn Stars sterben. Als der stets sonnenbebrillte »MGR« (Marudur Gopalamenon Ramachandran) starb, nahmen sich über 30 Fans aus Verzweiflung das Leben. Vor diesem Hintergrund verblasst die schnöde Tatsache, dass Chennai (ehemals Madras) in Sachen Budgets und Filmkopien pro Kinostart nur die Nummer drei unter den großen indischen Filmmetropolen ist – nach Bombay und Kalkutta.

Diese zuweilen fast beängstigende Kinoleidenschaft in Tamil Nadu hat eine Vorgeschichte, die mit der Einführung des Tonfilms beginnt. Bei einer Analphabeten-Quote von damals 80 Prozent spielte im multilingualen Indien die Filmsprache allein aus ökonomischen Gründen eine kaum zu überschätzende Rolle: Synchronisation ist eine teure Angelegenheit, und Untertitel kann nur eine Minderheit lesen. In den vier so genannten drawidischen Südstaaten Tamil Nadu, Andra Pradesh, Karnathaka und Kerala beherrschten aber zusätzlich noch politische Untertöne das Leinwandgeschehen. Schon zu Kolonialzeiten wehrte sich der drawidische Süden dagegen, dass seine uralten Sprachen und Kulturen von den arisch-brahmanischen Einflüssen aus dem Norden dominiert werden sollten.

Zuweilen wurde der Kampf gegen »Delhi« nicht minder heftig ausgetragen als gegen die Briten. Dabei entdeckten in den 40er Jahren vor allem in Tamil Nadu ethno-nationalistische Intellektuelle und Politiker das Kino als äußerst massenwirksames Medium. Der Mega-Star MGR prägte als omnipotenter und stets nationalistisch gesinnter Rächer der Armen ein ganz neues Genre von Filmen, die nach der Dravida-Munnetra-Kazhagam-Partei als »DMK-Filme« in die Geschichte eingingen. Konsequenterweise wechselte MGR dann auch nach dem Ende seiner Karriere als Filmstar in die Politik und regierte Tamil Nadu lange Jahre als Ministerpräsident, bis zu seinem Tod 1986. Seine politische Nachfolge trat – nach heftigen Auseinandersetzungen – zunächst seine Frau an, die auch im Film oft seine Ehefrau gespielt hatte. Inzwischen ist deren Rivalin – MGRs damalige Leinwandgeliebte – an der Macht. Die imposante Jayalalitha, die früher oft Vamps in engen Tiger-Outfits spielte und damals in ihren Filmen wie heute noch auf der politischen Bühne gerne die Peitschen knallen lässt.

Im August präsentiert der Filmclub 813 neben einigen aktuellen Top-Hits aus Bollywood (empfehlenswert vor allem: »Company« von Ram Gopal Varma, der als »indischer Martin Scorsese« gilt) erstmals eine Auswahl von neueren Filmen aus Tamil Nadu. Große Hits allesamt, mit viel Action, Musik, Tanz, Gesang und wunderschönen Frauen.

In diesen Produktionen werden zwar längst nicht mehr so explizit wie früher Reden ans Volk gehalten, aber man kann durchaus noch Spuren des DMK-Genres entdecken: etwa wenn – wie in »Muthu« – Megastar Rajnikanth als für Gerechtigkeit kämpfender Held mit Giftschlangen bewaffnet aus himmlischen Triumphwagen arme Sklavenmädchen aus den Fängen ihrer Verfolger rettet, die Angebetete im weißen Anzug auf Baby-Elefanten bezirzt und die Götter darum bittet, dass der Kuckuck ihr ein tamilisches Lied singen möge. Oder wenn – wie in »Thiruda, Thiruda«, einem Film von »Regiewunderkind« Mani Ratnam – sympathische Kleinkriminelle auf den Dächern rasender Züge gegen eine Bande von Schwerverbrechern aus Delhi antreten, um an viele Milliarden Rupien aus der Staatskasse heranzukommen. Tatsächlich aber sind diese ideologischen Kinokämpfe in Indien weitgehend von ökonomischen verdrängt worden: Heute fliegen die Stars zwischen Bombay, Kalkutta und Chennai hin und her, angelockt von sich überbietenden Gagen. Als Resultat bekommt das Publikum erst Hindi-Remakes von Tamil-Filmen zu sehen, dann bengalische Remakes von Hindi-Kassenschlagern in Tamil-Synchronisation, die wiederum indisierte Interpretationen von US-Erfolgsfilmen sein können ...

Die große Lust des indischen Publikums besteht darin, die ohnehin meist voraussehbaren Plots mit den »eigenen« Lieblingsstars und in der Muttersprache zu sehen – und sich dabei ganz auf die regionalen Abweichungen konzentrieren zu können. Gelegenheit zu diesem besonderen Kinovergnügen bietet dem Kölner Publikum das Nebeneinander des von Jeffrey Archers »Kane and Abel« inspiriertem Hindi-Kinohit »Khudagarz« und dem Tamil-Remake »Annamalai«. In letzterem spielt ebenfalls Mega-Star Rajnikanth die Hauptrolle. Der ehemalige Busfahrer, der es als Star zum Multimillionär gebracht hat, verkörpert für viele seiner Fans im Leben wie im Film die Hoffnung, dass es doch reale Auswege aus der Armut und dem Elend gibt, das das Gros der indischen Zuschauer aus eigener Erfahrung kennt. Ein Fanclub-Vorsitzender brachte es auf den Punkt: Rajnikanth sei »wie eine Maschine. 200 Tage im Jahr dreht er Tamil-Filme, 165 Tage im Jahr Hindi-Filme. Jedem, der Hilfe braucht, hilft er. Er ist wie unser guter, älterer Bruder. So lange wir leben, müssen wir an Rajni glauben.«

Die Reihe »That´s Bollywood II« läuft ab dem 15.8. freitags bis sonntags an drei Wochenenden im Kino in der Brücke, Anfangszeit ist immer 20 Uhr. Genaue Termine im Filmprogramm.