Lebende Bilder

Gemälde-Verfilmung: »Shirley — Visions of Reality« von Gustav Deutsch

Es ist der 28. oder 29. August — immer. Shirley heißt die Frau, mit der man entlang dieser Tage rund drei Dekaden US-amerikanischer Geschichte durchmisst: von der Weltwirtschaftskrise über McCarthys Hexenjagd bis in die Zeit der Bürgerrechtsbewegung. Das bedeutet für die Schauspielerin: vom Group Theatre zum Living Theatre, unterbrochen von Perioden der Erwerbslosigkeit in ihrem Metier, die sie unter anderem mit Büroarbeit oder als Platzanweiserin eines Kinos überbrückt. 

 

Shirley erzählt ihre Geschichte, während sie auf die Abfahrt eines Zuges wartet. Von all den großen politischen Ereignissen hört der Zuschauer indes nur. Denn die Historie weht aus Radio-Lautsprechern durch die Zimmer, in denen sich Shirley gerade befindet — sie selbst ist nie am Ort der Ereignisse, aber sie ist stets auf die eine oder andere Art und Weise betroffen. Das Private ist kein Schutzraum, nur eine Hülle.

 

Man muss auf den politischen Gehalt von »Shirley — Visions of Reality« (2013) insistieren, sonst gerät dieser wegen der einzigartigen Gestalt des Films aus dem Blick. Der österreichische Avantgarde-Regisseur Gustav Deutsch hat sein Spielfilmdebüt nämlich als eine Serie von tableaux vivants gestaltet: Für jede der dreizehn Schauplätze und Episoden ahmte er mit seiner Lebensgefährtin Hanna Schimek ein Gemälde von Edward Hopper als Studiokulisse nach. Dieses Set ließ er dann so ausleuchten, bis das Motiv exakt die Flächigkeit, die harten Konturen, die irritierend strahlende Mattigkeit der Vorlage besaß.

 

Außerdem wurden die für Hopper typischen Ungereimtheiten der Perspektive übernommen — einzelne Gegenstände mussten entsprechend verzerrt gebaut werden. In diesen zweidimensional wirkenden, aber offensichtlich dreidimensionalen Räumen bewegen sich die Darsteller. Aber »gespielt« wird hier nicht, die scheinbar alterslosen Figuren bieten reine Präsenz, was dadurch unterstrichen wird, dass eine professionelle Tänzerin — die unvergleichliche Stephanie Cumming — Shirley gibt. 

 

All das fügt sich zu einer rein kinematographischen Erfahrung, wie man sie nur selten noch machen kann. Ein ganz erstaunliches, in seiner künstlerischen Prinzipienfestigkeit singuläres Meisterwerk.