Halb entzaubert

Aussteiger-Familiendrama: Land der Wunder von Alice Rohrwacher

Eine Familie von Aussteigern lebt in der mittelitalienischen Provinz, ihr Haus macht einen baufälligen Eindruck, weit und breit gibt es keine Nachbarn. Der Vater, die Mutter und die vier Kinder halten sich mit Imkerei über Wasser, doch es mangelt an allen Ecken. Alice Rohrwacher inszeniert diesen Zustand in ihrem zweiten Spielfilm »Land der Wunder« in seiner ganzen Ambivalenz: halb als aus der finanziellen Not geborenen Dauerstress, halb als romantisches Abenteuer — es ist Hochsommer, die Familie stellt ein großes Bett nach draußen und schläft unter den Sternen.

 

Wenn der Honig gewonnen wird, sieht Helen Louvarts Kamera genau hin: Sie folgt den Handgriffen, mit denen die Schutzanzüge übergezogen werden, sie schaut zu, wie die Rahmen aus dem Stock genommen und später in einem Metallzuber geschleudert werden, wie der Honig aus dem Behälter hinausfließt und sich, sobald man den Auffangbehälter zu wechseln vergisst, über den Fliesenboden ausgießt. Weil die Eltern oft nicht da sind, liegt es an den Töchtern, sich darum zu kümmern, vor allem an Gelsomina (Maria Alexandra Lungu), der Ältesten. Sie arbeitet zu viel, und zu viel Verantwortung lastet auf ihr, aber zugleich ist da diese Freiheit, die Kinder genießen, wenn Bienen statt Helikopter-Eltern um sie herum schwirren.

 

»Land der Wunder« entwickelt eine beeindruckende Sensibilität für die sinnliche Seite des Geschehens und für die zentrifugalen und zentripetalen Kräfte, die auf die Familie wirken, das Nebeneinander aus Zusammenhalt und Überdruss, aus Not und Intimität, aus Macht und Liebe. Einiges bleibt ungeklärt, ohne vage zu werden. Warum etwa die Figur der Coco (Sabine Timoteo) auf dem Hof ist und in welcher Beziehung sie zu den übrigen steht, ist nicht ganz klar, auch nicht, woher der Vater eigentlich kommt, der sowohl Italienisch als auch Deutsch spricht, aber beides mit Akzent. In weiter Ferne scheint so etwas wie eine linksradikale Vergangenheit auf, eine Militanz, die sich überlebt hat und gleichwohl Schatten wirft.

 

Gelsomina träumt davon, am Wettbewerb eines regionalen TV-Senders teilzunehmen, es geht darum, wer die besten lokalen Produkte herstellt. Was man als Trash und billige Unterhaltung abzutun gewöhnt ist, bekommt bei Rohrwacher eine andere, fast magische Qualität. Monica Bellucci gibt eine gute Fee, gedreht wird in einer Grotte, bei Nacht, und allerlei märchenhafte Gestalten treten auf. In den Augen des Kindes birgt all dies ein Mysterium, das Rohrwachers schöner Film nur halb entzaubert.