Moritatensänger auf der Couch

Künstlerporträt: 20.000 Days on Earth mit und über Nick Cave

Wie ein Metronom bewegen sich die Scheibenwischer rhythmisch hin und her, wenn Nick Cave in seinem Jaguar über die Küstenstraßen Südenglands gleitet. In seinem Leben sind Musik und der englische Regen feste Konstanten. Die Musik brachte der Australier mit, an den Dauerregen musste er sich erst gewöhnen, als er 1980 die Kontinente wechselte. Auch am 20.000sten Tag im Leben von Nick Cave dominiert feinster Niederschlag, der den eleganten Zwirn des Dandys und Moritatensängers jedoch kaum benetzen wird. Wenn nicht in der Limousine, dann hält sich Nick Cave in geschlossenen Räumen auf — in seiner viktorianischen Villa in Brighton, im Studio, in der psychoanalytischen Praxis oder im ihm gewidmeten Archiv.

 

Am 20.000sten Tag seines Lebens wird Nick Cave 54,794 Jahre alt, und ob wir ihn wirklich an diesem Tag begleiten, spielt keine Rolle. Das unorthodox gewählte Jubiläum dient den Filmemachern Iain Forsyth und Jane Pollard allein dazu, Caves Leben kunstvoll zu verdichten und dem Non-Fiktiven eine fiktionale Form zu geben. Was gezeigt wird, ist wahr, auch wenn es inszeniert ist.

 

Mit geöffneten Augen liegt Cave zu Beginn im Bett neben seiner Frau Susie und starrt auf den Wecker. Als dieser klingelt, schließt er die Augen, um den Tag zu beginnen. Cave sitzt in seinem Arbeitszimmer an einem überquellenden Schreibtisch und hackt in die Schreibmaschine, er probt mit seiner Band The Bad Seeds, zu Mittag gibt’s Aal bei seinem musikalischen Mitstreiter Warren Ellis.

 

Um klassische Musikjournalisten-Interviews zu vermeiden und trotzdem etwas über den Musiker zu erfahren, der seine Karriere mit der australischen Punk-Formation The Birthday Party begann, verordnen die Autoren Cave einen Termin bei dem Psychoanalytiker ­Darian Leader. Dessen Fragen, so wurde vereinbart, waren Cave nicht bekannt. Entsprechend freudianisch fallen sie aus, bis Cave bei Nachfragen nach dem früh verstorbenen Vater verstummt. Einen weiteren Termin nimmt Cave im Nick-Cave-Archiv wahr, wo er Fotos seiner Karriere analysiert, darunter die legendären Aufnahmen eines Auftritts mit The Birthday Party im Stollwerck in Köln, bei dem ein Fan die Bühne enterte und dem Bassisten ans Bein pinkelte. Und ganz nebenher enthält der Film noch eine wundervolle Erzählung über Nina Simone. Spätestens jetzt ist »20.000 Days on Earth« endgültig eine Eloge an jedwede wahrhaftige Künstlerexistenz.