»Mein Mitgefühl gilt der Maus, aber ich füttere die Katze«

Widersprüchlich, schroff, subjektiv sind die Arbeiten von Boris Lurie — das EL-DE-Haus zeigt ein fast unbekanntes Kapitel amerikanischer Kunst

Wenig Neugier weckt der Titel: »KZ — Kampf — Kunst« ist die Boris Lurie-Retrospektive im NS-Dokumentationszentrum überschrieben. Klischeehaft, nach ordentlicher Gedenk- und Betroffenheitsarbeit klingt diese Überschrift, die dank der Befremdlichkeit und Intensität des Gezeigten fast augenblicklich unwichtig wird.

 

Boris Lurie kam 1924 in Leningrad als Sohn einer jüdischen, politisch und kulturell aufgeschlossenen Familie zur Welt. 1925 fliehen seine Eltern mit ihm und zwei Töchtern in die unabhängige Republik Lettland, leben in Riga, wo der Gymnasiast Boris erste künstlerische Versuche unternimmt. 1940 besetzt die Sowjetunion das Land, im Juni 1941 erobert es die deutsche Wehrmacht, bald wird ein jüdisches Ghetto eingerichtet, in dem auch Familie Lurie zu leben gezwungen ist. Noch vor Jahresende werden 20.000 Juden umgebracht, am 8. Dezember auch Luries Großmutter, Mutter, seine Schwester Jeanne und seine Jugendliebe Ljuba Treskunova. Boris und sein Vater überstehen Arbeits- und Konzentrationslager, 1945 werden sie in einem Außenlager des KZ Buchenwald von den Amerikanern befreit. 1946 emigrieren beide in die USA und lassen sich in New York nieder.

 

Mit dieser Verlust- und Überlebensgeschichte beginnt das überlieferte künstlerische Werk Luries. Mit ihr beginnt auch die Ausstellung, die die Ermordeten und Überlebenden in großen, eindringlichen Fotoportraits zeigt. Eine direkte Auseinandersetzung mit dem Erlebten, Erlittenen unternimmt Lurie in seiner »Warseries« genannten Folge von kleineren Zeichnungen und größeren farbigen Arbeiten, die wie eine Bilderwolke wandfüllend präsentiert werden. 1946/47 entstehen sie bald nach seiner Ankunft in New York — als private, ureigenste Versuche. Tastend sind diese expressiv orientierten Blätter, auf das Wesentliche einer Szene, eines Moments konzentriert: Lageralltag und Ausnahmesituationen, Portraits, (alb)traumartig übersteigerte Szenen, die das Deutliche und Undeutliche der Erinnerung eindrucksvoll transportieren.

 

Einige gemalte Frauen- und Aktdarstellungen der 50er Jahre, meist Körperfragmente, leiten über zu einem Kernmotiv, dass Lurie geradezu besessen einsetzt: Pin-up Bilder, auch härter sadomasochistischer Art. Diese zu Fleischlandschaften collagierten Fund- und Sammelstücke aus Magazinen sind mit den Leichenbergen der Lager assoziiert, den toten Frauen aus Luries Familie. Im Spannungsfeld zwischen Faszination und Ekel, Wunsch und Schrecken machen sie Verfügbarkeit, Verbrauch anschaulich.

 

Rabiat, direkt, schroff, kompromisslos, polemisch sind die Arbeiten dieser wichtigsten, bis 1964 dauernden Schaffensphase, in der es weder um formale Erfindung noch um ästhetische Attraktivität geht. Gerne hätte er schöne Kunst gemacht, sagt Lurie in einem Filmportrait, aber etwas habe ihn immer daran gehindert. Dieses Etwas sind die eigenen Erinnerungen, die hässlichen Tatsachen der (damals) jüngsten Vergangenheit und das Desinteresse der Amerikaner an diesen Verbrechen. Und ebenso die Verhältnisse (damaliger amerikanischer) Gegenwart, für Lurie eine obszöne Mischung aus altem und neuem Kolonialismus, sexueller Ausbeutung, Kaltem Krieg und kosmetischem Konsum. So füllt und überfüllt er seine Bilder mit Bildern, lädt sie exzessiv mit meist gefundenem Material auf. Er kombiniert Schrift und Bild, Bild und Malerei, Privates und Allgemeines zu dichten, überbordenden Panoramen. Mit »Oh, Mama Liberté« und »Amerique/Lumumba Dead« sind zwei Hauptwerke zu sehen.

 

Sehr reduziert, dabei extrem zugespitzt sind andere Arbeiten dieser Zeit: Ist die unvermittelte Kombination eines Zeitungsfotos von KZ-Überlebenden mit einer dieses Bild rahmenden Striptease-Sequenz schon schwer fassbar, so ist die Aufnahme von auf einer Ladefläche geschichteten Leichen, die von Lurie durch die Beschriftung zu einer 1945 von Adolf Hitler geschaffenen Assemblage, zu einem Kunstwerk erklärt wird, auch heute noch eine kaum lösbare Herausforderung für Gefühl und Verstand.

 

Das Jahr 1964 markiert einen Bruch in Leben und Werk. Luries Vater, dem er eng verbunden ist, stirbt und er tritt gewissermaßen seine Nachfolge an, engagiert sich an der Börse, was den kommerziell wenig erfolgreichen Künstler im Laufe der Zeit zu einem wohlhabenden Geschäftsmann macht. Dazu kommen persönliche Krisen, die seine künstlerische Produktion zunächst deutlich reduzieren, später zu einer Verlagerung aufs Schreiben führen. 2008 stirbt Boris Lurie in New York.