Ehestreit in Unterwäsche

Intelligentes Familiendrama: Höhere Gewalt von Ruben Östlund

Wenn ein Film mit dem Posieren einer prototypischen Kleinfamilie für ein Urlaubsfoto beginnt, stellt sich sofort die Frage, welche Risse das Musterbild familiärer Harmonie bald zeigen wird. So dauert es in »Höhere Gewalt« nicht lange, bis ein spektakulärer, aber harmloser Lawinenabgang den Vater Tomas zu einem Moment egoistischer Verantwortungslosigkeit verleitet. Danach gehen die beiden Kinder verstört auf Distanz zu ihm, und Ehefrau Ebba sieht ihn plötzlich mit anderen Augen, zumal er sein vorübergehendes Versagen nicht wahrhaben will. Um die Selbst- und Außenwahrnehmung des Paares kreist dieses kühle, abstrakte Drama, und um die Frage, inwieweit die liberale westliche Mittelschicht sich von alten Rollenbildern befreien kann — beziehungsweise will.

 

Über den Skiurlaub seiner Protagonisten führt Ruben Östlund sozusagen Protokoll, indem er jeden Tag mit einer Einblendung und mit Bildern der Morgendämmerung markiert. Die kurzen Montagesequenzen betonen die hermetische Abgeschiedenheit des hochalpinen Handlungsortes; fern des Alltags ignorieren Tomas und Ebba auch wie selbstverständlich soziale Konventionen, wenn sie beispielsweise Ehestreitigkeiten in Unterwäsche auf dem Hotelflur austragen. Zugleich führen die morgendlichen Aufnahmen des französischen Skiresorts aber auch vor Augen, dass sogar das erhabenste Gebirgspanorama von Kultur durchdrungen ist. Das ist wohl sinnbildlich zu verstehen im Hinblick auf die implizite Frage des Films, inwieweit jene Rollenbilder naturgegeben sind, an denen die Hauptfiguren sich, den Partner und die Familie messen.

 

Zu diesem Reizthema bietet Östlund keine klaren Lesarten an, was einen Fortschritt gegenüber seinem letzten Spielfilm »Play« bedeutet, in dem der schwedische Filmemacher die meisterliche Ambiguität der zentralen Geschichte noch durch die kokette Eindeutigkeit der Nebenhandlungen ruinierte. Während in »Höhere Gewalt« Tomas seinen Fehltritt zu kompensieren versucht und die Kleinfamilie sich weiteren potenziellen Gefahrensituationen ausgesetzt sieht, wirft der Film mehr Fragen auf, als er beantwortet.

 


Fragwürdig bleibt allerdings die Erzählperspektive. Östlunds eigenwilliger Stil basiert auf statischen Totalen in neutralen Farben, wobei er gelegentliche Akzente — vermeintliche Kamerabewegungen oder Zooms — oft erst in der Postproduktion ins hochauflösende Videomaterial zaubert. Das ist faszinierend. Doch in seiner Abgehobenheit spiegelt es auch die kalte, gleichgültige Allmacht einer vom Filmtitel herbeizitierten höheren Gewalt.