Blick durch den Schleier

W.E.B. Du Bois schrieb 1903 mit »The Souls of Black Folk« das epochale erste Manifest der Bürgerrechtsbewegung der USA. Max Annas berichtet von der ungebrochenen Aktualität des Buchs und der gerade erschienenen deutschen Erstübersetzung

Jedes Jahrhundert hat seine wirklich bedeutenden Bücher. Die Wahrnehmung dieses Werts hängt zwar stark ab von Land, Herkunft oder politischer Überzeugung der Leser, aber die Feuilletons sind sich bei Kanonisierungsfragen meist recht einig. Vor allem bei Werken mit internationaler Reputation oder überkontinentaler Wirkung entgeht dem geschärften Blick so schnell nichts, könnte man meinen. Das gilt nicht immer. Es gibt beispielsweise einen Autor, der im hiesigen Alltagsbewusstsein fast komplett absent ist. Und das, obwohl er eines der einflussreichsten Bücher des abgelaufenen Jahrhunderts geschrieben und einen starken Hang zur deutschen Literatur hat, der in seinem zentralen Werk immer wieder durchscheint.
»The problem of the 20th century is the problem of the color-line« – das Problem des 20. Jahrhunderts ist das Problem der Rassentrennung. Mit diesem Satz, der wie gemeißelt daherkommt, eröffnet W.E.B. Du Bois 1903 sein Buch »The Souls of Black Folk«. Er wiederholt ihn noch einige Male und gibt damit dem Jahrhundert eine frühe Leitlinie. Das Werk gerät zum Grundlagenwerk für die Bürgerrechtsbewegung, der Autor selbst wird zum ersten intellektuellen Star der afroamerikanischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts.
»Wenn man ein solches Buch findet und sieht, dass es noch nie auf Deutsch erschienen ist, dann ist das, als wenn man eine Perle in einem Heuhaufen entdeckt. Ich habe mich nur gewundert und wollte alles dafür tun, dass es endlich in Deutsch zu haben ist.« Martin Baltes hat in seinem Freiburger Verlag orange press schon einige Bücher zu afroamerikanischer Kultur und politischer Theorie produziert. »Die Seele der Schwarzen«, wie Du Bois’ Buch auf Deutsch nun heißt, schlägt da ein wenig aus der Art: mit ausführlichen Kommentaren und einem großzügigen Anmerkungsapparat versehen, dazu mit etlichen Fotos, die Du Bois und seine Zeit noch deutlicher wahrnehmbar machen, hat der Band eine erstaunliche Opulenz, die dieser verlegerischen Leistung angemessen ist.
Das Buch ist vieles in einem: Reisebericht, der die Lebensbedingungen der Schwarzen im Süden der USA beschreibt und kommentiert; eine literarische Fiktion über den Zustand der Schwarzen Psyche in jenem namenlosen Zustand zwischen der Abschaffung der Sklaverei und der längst nicht erreichten Erlangung selbstverständlicher Rechte; Plädoyer für die Selbstbesinnung der Schwarzen Bevölkerung auf ihre eigenen Kräfte. Du Bois redet über Bildung als den einzig denkbaren Weg zur Emanzipation. »Ich finde dieses Buch so großartig und modern, weil es eben nicht nur theoretische Texte beinhaltet, sondern ganz stark persönliche Erfahrungen und eine erzählerische Ebene mit hineinbringt«, sagt Baltes. »Das ist eine Mischung, wie wir sie erst aus dem späten 20. Jahrhundert kennen, und nicht von 1903.« Nicht zuletzt war »The Souls of Black Folk« natürlich auch für jenes Weiße Publikum gedacht, das ein entwickeltes Empfinden für Gerechtigkeit haben musste. Waren nicht starke Kräfte in einen blutigen Bürgerkrieg gezogen, um ihre Schwarzen Brüder und Schwestern zu befreien vom Joch der Sklaverei?
William Edward Burghardt Du Bois (1868-1963) ist eine der faszinierendsten Figuren der Moderne. Er hat in elf Jahrzehnten gelebt, war sowohl Zeitgenosse Booker T. Washingtons wie Kwame Nkrumahs und traf beide persönlich. Geboren am Ende des Bürgerkriegs, aufgewachsen in nicht nur relativer Freiheit von Weißem Rassismus in der Gegend von Boston, wurde er der erste Schwarze Harvard-Absolvent und schließlich Professor für Geschichte und Ökonomie an der Schwarzen Uni von Atlanta. Er war besessen von der wissenschaftlich gründlichen Erfassung Schwarzen Lebens in den USA. Und nach seinem umfangreichen Werk »The Negroes of Philadelphia« (1898) widmete er sich also dem Süden. Für die Weltausstellung 1900 in Paris bereitete er eine Fotoausstellung vor, die auf drei Fundamenten ruhte: das Elend als Resultat der Rassentrennung, die Kämpfe um afroamerikanische Bildungseinrichtungen und zuletzt Portraits. Du Bois hat zahllose Menschen fotografiert, und seine Absicht spricht deutlich aus jedem Bild: Menschen ein Gesicht zu geben. Mehr als jedes Gesetz es vermochte, integrierte er mit diesen Portraits die Ausgeschlossenen in die US-Gesellschaft. Nicht nur nebenbei schrieb er jene Texte, die später ein Buch ergeben sollten.
»The Souls of Black Folk« ist frei von Hass, nüchtern in der Beschreibung und voller Verständnis selbst für die Verwirrungen der Weißen, die ihre Rolle nach dem Ende der Sklaverei genau so noch suchten wie jene Mitbürger, die einst als ihr Eigentum leben mussten. Du Bois schlägt die Brücke zwischen den wackligen Hütten der Schwarzen und den notwendig zu errichtenden Universitäten für sie direkt oder indirekt in beinah jedem seiner Kapitel. Sein Held ist der Lehrer, der er einst selbst war, der übers Land geht und sich eine Schule sucht, um ganz klein anzufangen und den Schleier zu bannen, der Du Bois’ Metapher ist für die Schwarze Existenz im Süden. Hinter diesem Schleier sah er ein gleichzeitig unwirkliches und sehr greifbares Leben im totalen Abseits.
Du Bois war 35 Jahre alt, als das Buch erschien, das der vielleicht bedeutendste Teil seiner nicht zu unterschätzenden Arbeit gewesen ist. Er hatte ein Studium an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität hinter sich und einen Lehrauftrag an der dann nach Alexander Humboldt benannten Institution in der DDR in den 50ern noch vor sich. Die zahlreichen Bezüge in »The Souls of Black Folk« auf deutsche Literatur, »Sturm und Drang« etwa erscheint als Zitat im Original, haben ihre Wurzeln in Du Bois’ erster Berliner Zeit. Neben Marcus Garvey und George Padmore war er die Ikone einer Bewegung, die Pan-Africanism genannt wurde und eine Einheit der Interessen der Menschen in Afrika und der Diaspora erkannte. Sehr erfahren in symbolischen Dingen, und gequält durch den Terror des McCarthyismus, kündigte Du Bois schließlich 1961 seine US-Staatsbürgerschaft und wanderte nach Ghana aus. So wurde er als Person zum Manifest des afroamerikanischen Fokus auf Afrika. Nicht minder symbolisch ist, dass die Nachricht seines Todes, er starb am 27. August 1963, einen Tag später den March on Washington eröffnete. Das war jener Tag, an dem sein jahrzehntelanger Kampf begann, für alle sichtbar Früchte zu tragen.
Während seines Studiums in Berlin lernte Du Bois den Soziologen Max Weber kennen, der einer der ersten Leser außerhalb der USA war und sich vornahm, das Buch auf Deutsch zu veröffentlichen. Die Versuche misslangen, und so wurde »The Souls of Black Folk« ins Spanische, Französische, Portugiesische und Japanische übersetzt. 100 Jahre später ist das Buch hier vielleicht eine neue Erfahrung, international allerdings hört sich das anders an. Kaum eine prominente Universität in den USA zum Beispiel kann es sich erlauben, kein Buch zum 100-jährigen Jubiläum dieses Buches zu machen. Unter all diesen Publikationen allerdings dürfte »Die Seele der Schwarzen« das schönste Buch sein. Keine eilig erledigte Pflicht, sondern ein Buch mit Haltung und Farbe. In Orange. Mit einem der beeindruckendsten Fotos von Du Bois als Titelmotiv. Ein namenloser Slum im Süden, die Eisenbahnschienen im Vordergrund weisen den Weg in eine nicht gewisse Zukunft. Du Bois zeigt die Menschen im Slum nicht als Opfer der Industrialisierung, sondern als Unbeteiligte. Er lässt ihnen alle Chancen für die Zukunft offen.

Info
W.E.B. Du Bois: Die Seelen der Schwarzen. Aus dem Amerikanischen von Jürgen und Barbara Meyer-Wendt, orange-press, Freiburg 2003, 318 S., 22 .