Gewalt gegen Gewalt

Sex, Drogen, Gewalt – der Skandal-Dreier reizt nach wie vor Filmemacher und Jugendschützer. Sven von Reden über drei Filme, die diesen Monat an die Grenzen gehen: »Die 120 Tage von Sodom«, »Spun« und »Irreversibel«.

 

 

Als »Verlockung zur Brutalität« bezeichnete Karl Korn im Februar 1976 Pasolinis »Die 120 Tage von Sodom«. Der langjähriger Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung forderte eine »Gegenaufklärung« zu diesem »angeblichen Kunstwerk«, das von einer »zur Farce entarteten« freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft freigegeben worden sei. Dass Korn vor 1945 Feuilletonchef der Zeitschrift Das Reich war, in der er etwa den Filmstart von »Jud Süß« als passenden Anlass für eine antisemitische Hetzschrift genommen hatte, schien seine Zensurgelüste für Pasolinis Film nicht zu bremsen. Wenig später beschlagnahmte die Saarbrücker Staatsanwaltschaft den Film bundesweit.

Seit Mai dieses Jahres bringt der kleine Verleih Alamode »Die 120 Tage von Sodom« in einer restaurierten und ungekürzten Fassung wieder in die Kinos. Der FAZ war das keine Zeile mehr Wert, die taz brachte einen Rückblick auf den damaligen »Kulturkampf«. »Es bleibt abzuwarten, wie er heute wirken wird«, blickt darin Dietrich Kuhlbrodt unsicher in die Zukunft.

Bislang jedenfalls hat es keinerlei Probleme mit Staatsanwaltschaften oder besorgten Bürgern gegeben. Die Geschichte der »120 Tage« scheint den Allgemeinplatz zu bestätigen, dass der Tabubruch bestenfalls noch als Marketinginstrument taugt, als Waffe des Schocks oder gar der Subversion jedoch stumpf geworden ist in den Jahrzehnten, seit die Pioniere der Moderne alle künstlerischen und moralischen Grenzen überschritten.

Es dürfte eher am Abstand von über einem Vierteljahrhundert seit der Erstaufführung liegen, dass »120 Tage«, mittlerweile nur noch für wenig öffentliches Aufsehen sorgt. Der Regisseur ist längst in den Pantheon großer europäischer Künstler und Intellektueller aufgestiegen – und nach »Verlockungen zur Brutalität« wird heute eher im jüngeren und weniger gesellschaftlich legitimierten Medium des Computerspiels gefahndet. Dennoch: Pasolinis Film wirkt unverändert verstörend, das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass auch heute noch Zuschauer vor Filmende das Kino verlassen.

»Skandalfilme« gibt es weiterhin, und sie werden direkt oder indirekt zensiert oder gar nicht erst aufgeführt. Im vergangenen Jahr sorgte in Cannes Gaspar Noés Vergewaltigungs- und Rachedrama »Irreversibel« mit einer unerträglich langen Vergewaltigungsszene und einem in voller Länge gezeigten bestialischen Mord für Aufregung. In Australien durfte der Film daraufhin nicht gezeigt werden, in den USA bekam er keine Bewertung der Motion Picture Association of America. Auch wenn »Irreversibel« dadurch ungeschnitten in einige US-Kinos kommen konnte, die meisten amerikanischen Kinobesitzer nehmen einen unbewerteten Film nicht ins Programm, und viele Medien dürfen für solche Filme nicht werben. Dieses Schicksal ereilte auch Jonas Akerlunds Debütfilm »Spun«, der den Alltag von Speed-Süchtigen im sonnengebleichten North Los Angeles Valley verfolgt. Er entschied sich jedoch, parallel eine entschärfte Version auf den Markt zu bringen, die ab 17 freigegeben wurde.

Was »Spun« von »120 Tage« und »Irreversibel« unterscheidet, ist, dass er in der Tat gekürzt werden kann, ohne gravierende Auswirkungen für den gesamten Film. Eine Szene etwa, in der Kleindealer Spider Mike beim Telefonsex onaniert, während man parallel den Weg der Exkremente seiner Freundin bis in den Abfluss verfolgen kann, dürfte zwar bei den amerikanischen Filmbewertern für Stirnrunzeln gesorgt haben, lenkt aber eher vom eigentlichen Thema des Films und seiner Stimmung ab. Akerlund wollte ein realistisches Porträt des Alltags seiner Hauptfiguren zeichnen – zu dem Sex, Drogen und Gewalt gehören – und so seine Anti-Drogen-Botschaft ohne erhobenen Zeigefinger vermitteln. Die schnellen Schnitte (angeblich insgesamt 4.500), Animationseinschübe, die jungen hippen Schauspieler (Mena Suvari, Brittany Murphy, Jason Schwartzman) und das noch hippere White-Trash-Styling des Films haben dem Musikvideoregisseur Akerlund den vorhersehbaren Vorwurf eingebracht, das Thema Drogen nur oberflächlich abzuhandeln. Aber es gelingt ihm gerade durch den abgewrackten Glamour und den Humor seines Films, seine Moral nicht zu dick aufzutragen. Eins wird jedenfalls deutlich: Nichts ist anstrengender und leerer als dauerhaft einer guten Zeit hinterherzurennen.

Das Musikvideo für »Smack My Bitch Up« von Prodigy filmte Akerlund aus der Perspektive eines mit Drogen vollgepumpten randalierenden Nachtschwärmers, dessen überraschende Identität man erst am Ende erfährt. Gaspar Noé beginnt »Irreversibel« ähnlich: Wie von Sinnen hasten zwei Männer, Marcus und Pierre, durch die Katakomben eines Sado-Maso-Schwulenclubs auf der Suche nach einem Mann mit dem Spitznamen »La Tenia« (»Der Spulwurm«). Die Suche endet grausam: Mit einem Feuerlöscher wird einem Mann der Schädel zertrümmert. Die Kamera zeigt den Mord bis nur noch Matsch vom Kopf übrig ist, während ein Teil der Umstehenden sich an diesem Anblick aufgeilen. Eine Szene, die in ihrer abstoßenden Brutalität in der Filmgeschichte ihres gleichen sucht. Sie verstört umso mehr, da zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar ist, wer die handelnden Personen sind und was überhaupt den Gewaltausbruch motiviert hat.

Noé erzählt seine Geschichte rückwärts in zwölf Sequenzen, die ohne sichtbare Schnitte auskommen. Erst nach und nach erfahren wir, dass Marcus’ Freundin Alex in dieser Nacht brutal vergewaltigt wurde von La Tenia. Die Umkehrung der Zeitachse erweist sich bei »Irreversibel« als mehr als eine formale Spielerei. Noé unterwandert geschickt das notorisch reaktionäre Genre des »Rape-Revenge«-Dramas. Da die Rache kontextlos geschieht (und zudem den Falschen trifft), wird sie nicht als gerechte Strafe wahrgenommen, sondern als bestialischer Willkürakt.

Auf der anderen Seite steht Noés provokativ homophobe Darstellung des Schwulenclubs »Rectum«. Auch die Art, wie er den öffentlichen Raum als Ort des Verbrechens inszeniert, würde jeden Rechtspopulisten freuen. Doch das Problem ist in »Irreversibel« weniger, dass einzelne Gruppen diffamiert werden, es ist Noés plakativ pessimistische Anthropologie, die den ganzen Film durchzieht. »Der Mensch ist ein Tier!« »Es gibt keine Verbrechen nur Taten!« »Die Zeit zerstört alles!« – das sind Sätze, die Noé liebt. Er ist ein talentierter Regisseur, seine brutal banale Hardboiled-Philosophie überdeckt allerdings zu oft seine filmische Intelligenz.

Pasolinis »120 Tage« kreist ebenfalls um die Trias Sex, Macht und Tod, aber auf intellektuell höherem Niveau. Er zeigt, wie in den letzten Tagen der faschistischen Republik von Salo in Norditalien vier Honoratioren eine Gruppe Jugendlicher über drei Tage foltern und schließlich umbringen. Pasolini geht es in seinem Film um eine Kritik an der Anarchie der Macht – in politischer und sexueller Hinsicht. Sexuelle Freizügigkeit, die Pasolini zuvor noch in seiner Mittelalter-Trilogie gefeiert hatte, wird in »120 Tage« als Teil eines Problems und nicht der Lösung gesehen. Pasolini kommt zu der schmerzhaften Erkenntnis, dass der Zusammenbruch sexueller Normen in einer Gesellschaft mit ungleichen Machtverhältnissen, Menschen zu Objekten degradiert. Sein Film ist Ausdruck von Marx’ Maxime, dass die Bourgeoisie alles in eine Ware verwandelt. Was Michel Houellebecq heute mit Freude an der Provokation feiert, trieb Pasolini zum verzweifeltsten Film seiner Karriere.



»Irreversibel« und »120 Tage« verbindet, dass eine Kürzung gerade der abstoßendsten Szenen ihre Aussagen abschwächen oder gar umkehren würde. So sieht es auch die britische Filmbewertungsstelle BBFC, die »Irreversibel« und – nach einer erneuten Prüfung im Jahre 2000 – »Die 120 Tage« ohne Schnitte freigegeben hat. Die sinngemäße Begründung: Jede Kürzung an den inkriminierten Stellen würde sie unterhaltsamer machen und damit zu einer Verlockung zur Brutalität.

Info
Die 120 Tage von Sodom (Salo o le 120 giornate di Sodoma) I/F 75, R: Pier Paolo Pasolini, D: Paolo Bonacelli, Giorgio Cataldi, Uberto P. Quintavalle, 117 Min. Filmhaus: 4.-9.9., 19.30 Uhr; 11/12/15.9., 21.30 Uhr; 13/14.9., 22 Uhr.

Irreversibel (Irreversible) F 02, R: Gaspar Noé, D: Monica Bellucci, Vincent Cassel, Albert Dupontel, 99 Min. Start: 11.9.

Spun (dto) USA 02, R: Jonas Akerlund, D: Jason Schwartzman, John Leguizamo, Mena Suvari, 101 Min. Start: 11.9.