Misshandeln, was man liebt

Warum und wie Lars von Trier mit »Dogville« ein weiteres Mal versucht, dem Kino die Illusionen auszutreiben, erläutert Michael Kohler.

In »Singin’ in the Rain« (1952) verraten Gene Kelly und Stanley Donen, wie in der Musical-Welt die Illusionen geschaffen werden: Weil ihm bei Tageslicht die Liebesworte stocken, führt der Filmstar Don Lockwood (Gene Kelly) seinen Schwarm in das biblische Dunkel eines Studios. Er schaltet die Licht- und Windmaschinen ein, und schon verwandelt sich die Ödnis des riesenhaften Hangars in etwas Bezauberndes. Die aufgehenden Scheinwerfersonnen teilen die Nacht über einer neuen Welt. Während das Mädchen in die künstlichen Farben der Illusion eintaucht, wird die Rede zum becircenden Gesang, das Schlendern zum Tanz und zur angedeuteten Umarmung.

Umgekehrte Kinoillusionen

Wenn in »Dogville« die Kamera von oben auf den Grundriss einer Studiobühne schaut, dann hat Lars von Trier Kellys und Donens Weg der Kinoillusionen gleichsam umgekehrt: Die Licht- und Windmaschinen werden von ihrem Dienst entbunden, und zurück bleibt das trostlose Innenleben einer Halle irgendwo in Göteborg. Auf den Boden haben Arbeiter mit weißer Farbe die Umrisse von Häusern gemalt und einige Straßennamen aufgeschrieben. Es gibt keine Wände, die wenigen Möbel stehen frei im Raum, ein Glockenstuhl schwebt in der Luft. Sobald jemand ein Haus betritt, hört man vom Band die Klinke knarren. »Dogville« sieht die meiste Zeit so aus, als habe jemand die Probenarbeit vor einem Film mit der Videokamera verfolgt und später zu einem dreistündigen Werk zusammengeschnitten. Aber natürlich ist dieser Eindruck genau das, was von Trier bezweckt hat.
Das Städtchen »Dogville« ist eine einsame Insel im Meer der Filmgeschichte. Die Vorbilder für den ersten Teil seiner »Amerika«-Trilogie hat sich Lars von
Trier nicht im Kino gesucht, sondern bei der Seeräuber-Jenny aus Brechts Dreigroschenoper, Fotografien aus der Zeit der amerikanischen Depression und bei Theateraufzeichnungen der Royal Shakespeare Company aus den 70er-Jahren. Ein wenig erinnert das Ganze an »Unsere kleine Stadt« von Thornton Wilder – nur ist dessen humanistischer Grundton in »Dogville« bloße Ironie.

Keine Gastfreundschaft

Eines Tages kommt eine junge Frau in das arme Bergdorf, dessen Bewohner ein wohlmeinender Erzähler (John Hurt) als einfach, wenngleich nicht frei von Makeln, aber im Grunde ihres Herzens gut beschrieben hat. Grace (Nicole Kidman) ist auf der Flucht und wird von den Menschen in Dogville nach kurzem Zögern aufgenommen. Sie erwidert die Gastfreundschaft mit kleinen Arbeiten, macht sich bald unentbehrlich und findet im bescheidenen Leben ein ihr bisher unbekanntes Glück. Als ein Sheriff nach Dogville kommt und Graces Steckbrief am Gemeindehaus zurücklässt, beginnt sich der Wind allmählich zu drehen. Aus der liebevollen Duldung wird Ausbeutung; die Männer vergehen sich an Grace, und die Frauen verachten sie dafür. Auf dem Höhepunkt der Erniedrigungen wird Grace an ein eisernes Wagenrad geschmiedet sein und ihr Martyrium doch klaglos ertragen.

Lieblingsspielzeug Kino

Dieses Lehrstück von der Korrumpierbarkeit des Menschen wäre wohl schon zu Zeiten Brechts überholt gewesen. Heute wirkt es, wie alle Geschichten Lars von Triers, gänzlich aus der Zeit gefallen. Doch um ein zeitgemäßes Erzählen ist es diesem legitimen Erben von Carl Theodor Dreyer, dem 1968 gestorbenen dänischen Regisseur, noch nie gegangen. Zieht man die ironischen Zitate aus den Filmen von Lars von Trier ab, bleibt von ihnen nur die immer gleiche Fabel von der sich opfernden Unschuld übrig. Seit »Breaking the Waves« wissen wir, dass auch diese lediglich ein Vorwand ist, um das Kino an seine Grenzen zu führen. Von Trier glaubt nicht an Stoffe, und er glaubt nicht einmal an seine zumeist großartigen Schauspieler. Er misshandelt die klassischen Vorstellungen davon, wie ein Film auszusehen habe, weil er auf eine paradoxe Weise an die Kraft der Bilder glaubt. »Wie weit kann ich das Kino biegen, bis es bricht?«, scheint sich von Trier zu fragen, um mit der Erleichterung eines Kindes festzustellen, dass sein Lieblingsspielzeug allen Belastungsproben standhält.

Bastard aller Künste

Nicht die Welt ist eine Bühne, sondern eine Bühne ist die Welt: Was Gene Kelly und Stanley Donen für das klassische Hollywood-Musical behaupteten, trifft auch auf den Film im Allgemeinen zu. Als Bastard sämtlicher Künste vereint der Film neben Literatur, Musik und Malerei auch das Theater und die Oper in sich. Ihnen allen hat das Gesamtkunstwerk Kino seinen Abbildrealismus voraus, die von der Technik verliehene Gabe, eine perfekte Illusion der Welt zu projizieren. In den frühen Jahren des Films konnte man gleichsam verfolgen, wie sich das Kino seine Vorläufer zu Eigen macht; erst holprig und ungeschickt, dann mit der Selbstgewissheit des überlegenen Eroberers. Die Anti-Illusionisten unter den Filmemachern haben daher stets versucht, die Uhr zurückzudrehen und das Kino wieder in seine Einzelteile zu zerlegen: aus den Filmbildern wieder Malerei werden zu lassen, aus den Dialogen wieder Literatur und aus dem Kino wieder einen Theatersaal. Einer der größten Magier der Entzauberung, vielleicht der größte nach Jean-Luc Godard, ist Lars von Trier. Während Godard in seinen späteren Filmen die Malerei als Matrize seiner Bilder kenntlich macht, betreibt von Trier seine Dekonstruktion des Kinos aus dem Geiste des Theaters.

Unmittelbarkeit der Bühne

Liest man Lars von Triers »Dogma« heute wieder, dann erkennt man darin den Entwurf, das Kino durch die Unmittelbarkeit der Bühne zu revolutionieren. Das dänische Gelübde zur Enthaltsamkeit setzt an die Stelle der »klassischen« Kinoillusion die Suche nach einer Wahrhaftigkeit, die man für gewöhnlich dem Theater zuschreibt. Mit seinem Dogma-Film »Idioten« inszenierte von Trier dann auch ein Stück
living theatre: Eine Gruppe junger Leute schlüpft in die Rollen geistig Behinderter, um den »inneren Idioten« und damit die absolute Freiheit in sich zu finden. Dass das anarchische Experiment an seinen eigenen Widersprüchen scheitert, zeigt schon, wie wenig ernst von Trier diese Erzählung genommen hat. Auch das reale living theatre hatte nur eine kurze Blüte, und das Dogma war offensichtlich nicht zu seiner Wiederbelebung angetreten.
Von Triers nächster Film »Dancer in the Dark« war zwar eine Abkehr von den Buchstaben des Dogmas, im Geiste blieb er ihm aber treu. Bereits in den ersten Minuten seines Musicals zerlegt er das Genre in seine Bestandteile: die Bühne und die Musik. Zunächst erklingt eine Ouvertüre über Schwarzfilm, dann sieht man den Theaterproben einer Laienspielschar zu. Alles weitere folgt dieser dekonstruktiven Logik, auch wenn es einige beinahe klassisch anmutende Tanz- und Gesangseinlagen gibt. Am Ende von »Dancer in the Dark« wird nicht die triumphale, Arbeit und Leben in sich aufhebende Premiere stehen, sondern eine Erlösung, die mit den Verheißungen des Musicals nichts mehr gemein hat.

Nicole Kidman nie so hübsch

Die Keimzelle des von Trier’schen Werks liegt in seiner Selbstgenügsamkeit. Es erzählt nichts über seine Figuren, dafür aber umso mehr über das unstillbare Verlangen des Regisseurs, das Kino auf die Probe zu stellen. Auch »Dogville« ist erfüllt von dieser zwanghaften Experimentierlust, die sich in ihrer Konsequenz gleichwohl etwas Faszinierendes bewahrt.
Das Erstaunlichste an von Triers Anti-Kino ist dabei, dass es seinen Schauspielern immer wieder zu einer wundervollen Präsenz verhilft: Nicole Kidman war nie so hübsch und so eindrucksvoll wie vor Anthony Dod Mantles Kamera, und auch die großen alten Frauen und Männer Hollywoods, Lauren Bacall, James Caan und Ben Gazarra, haben in »Dogville« noch einmal einen schönen Auftritt. Auch wenn man seine filmischen Exerzitien nicht mag, würde man Lars von Trier vermissen.

Dogville (dto) DK/GB/S/F/D/NL, R: Lars von Trier,
D: Nicole Kidman, Ben Gazzara, Lauren Bacall, 178 Min. Start: 23.10.