Es gibt keine Sühne

Auch in »Mystic River« bleibt Clint Eastwood der große amerikanische Erzähler der Gewalt

»Es ist unmöglich, seine Filme finster anzuschauen, weil man dann nichts mehr sieht (außer Geschichten von sentimentalen Soldaten).« Was der französische Filmkritiker Serge Daney über John Ford geschrieben hat, trifft nicht weniger auf das Werk Clint Eastwoods zu. Auch in seinen Filmen findet man den »sentimentalen Soldaten«, meist Eastwood selbst, der in wechselnden Inkarnationen einer untergegangenen Welt nachtrauert. Wie Fords Helden führt er einen verlorenen Kampf in seinem Inneren fort und trägt ihn, hinter der Maske der Professionalität verborgen, zurück ins Herz der Gesellschaft. Wer darin jedoch nur die reaktionäre Rachefantasie erkennt, hat nichts gesehen. Die Gewalt ist das große Thema Clint Eastwoods, gerade weil er weiß, dass es die bessere Welt, von der seine Figuren träumen, nie gegeben hat. Seine Filme rühren an den blinden Fleck jeder Moral: dass es kein Leben gibt, ohne Gewalt, und keine Gesellschaft, die nicht auf sie gegründet ist.
Im Kern sind alle Polizeifilme Clint Eastwoods Rollenspiele, in denen die individuelle Schuld der Menschen mit der gewalttätigen Welt verrechnet wird. Sein jüngstes Werk »Mystic River« zeigt dieses Prinzip in seiner bislang reinsten Form: An einem schläfrigen Nachmittag in den 60er Jahren stehen drei Jungen vor einem Quadrat frischen Zements und beschließen, sich im Bürgersteig zu verewigen. Die forscheren Jimmy und Sean machen den Anfang, doch als Dave, der schüchternste im Bunde, gerade das »a« vollendet hat, werden sie von einem Fremden ertappt, der sich als Polizist ausgibt. Der Mann in Schwarz zwingt Dave kraft seiner erschlichenen Autorität in eine Limousine und wird sich gemeinsam mit einem Komplizen an ihm vergehen. Als der Junge nach einigen Tagen fliehen kann, ist nichts mehr wie es war.
Dieser Prolog ist wie ein Gesellschaftsvertrag, der, in weichen Zement geschrieben, von der Gewalt gehärtet wird. Auch wenn sich die Wege der Jungen trennen werden, so hat das Verbrechen sie doch schicksalhaft verbunden. Für jeden von ihnen wird die Gewalt ein treuer Begleiter sein. 30 Jahre später bestimmt sie noch ihr Leben: Dave (Tim Robbins) ist das von Erinnerungen verfolgte Opfer geblieben, Jimmy (Sean Penn), der geborene Anstifter, ein verurteilter Einbrecher, und Sean (Kevin Bacon) ist mittlerweile Polizist. Als Jimmys Tochter ermordet wird, führt das Verbrechen die drei wieder zusammen. Sean hat man mit den Ermittlungen betraut, und während sich Dave allmählich als Verdächtiger herauskristallisiert, versucht der trauernde Jimmy, das Recht selbst in die Hand zu nehmen.
Sieben Jahre nach »Mitternacht im Garten von Gut und Böse« hat sich Clint Eastwood in einem seiner Filme wieder auf
die Regie (und die Komposition
der Originalmusik) beschränkt. Gleichwohl ist er auch in »Mystic River« seiner zuletzt gezeigten Lieblingsrolle treu geblieben: der Veteran, dem allen widrigen Umständen zum Trotz, niemand etwas vormacht. Tatsächlich verströmt seine Erzählung eine handwerkliche Gelassenheit, die im Hollywood dieser Tage rar geworden ist. Als Genreregisseur im klassischen Sinn hält er sich an das Wesentliche seiner Fabel und findet darin den Keim erzählerischer Freiheit. Zwar bestimmt der Wettlauf zwischen Justiz und Selbstjustiz den Film, doch in diese alternierende Bewegung sind polizeiliche Ermittlungsroutinen, familiäre Trauerarbeit und die Geister der Vergangenheit mit einer schlichten Eleganz verwoben, die auch noch Raum für drei miteinander verschränkte Beziehungsdramen lässt. Die Ehen der Protagonisten stehen jede für sich genommen auf dem Prüfstand: wie die eine auseinanderbricht, während die anderen beiden sich erneuern, sagt alles über die Geschichte der drei Freunde aus.
Der »Mystic River«, der Clint Eastwoods mittlerweile 24. Regiearbeit den Titel gibt, ist weniger ein realer Fluss als ein Strom aus der Vergangenheit. »Wir begraben unsere Sünden«, sagt Jimmy einmal, »wir waschen uns rein«. So wie er es sagt, ist nicht nur sein eigenes Verhalten damit gemeint. Tatsächlich reicht der Strom bis an den Ursprung der amerikanischen Gesellschaft: Wenn am Ende von »Mystic River« eine patriotische Parade durch die von Flaggen gesäumten Straßen zieht, dann hat einer der Freunde sein Leben gelassen. Das Ungeheuerliche daran ist: Es gibt keine Sühne. Die Parade erscheint als Versprechen eines neuen Anfangs. Das Leben geht weiter, weil, so lässt sich folgern, schon die auf den Straßen gefeierte »Manifest Destiny«, die Mitte des 19. Jahrhunderts ausgerufene »schicksalhafte Bestimmung« der USA, sich über den Kontinent auszubreiten, über seine Opfer wie selbstverständlich hinweggegangen ist. Der patriotisch gefärbte Morgen erstrahlt in hellem Glanz – und doch hat man einen Film aus Hollywood selten so düster enden sehen.

Mystic River (dto) USA 03, R: Clint Eastwood,
D: Sean Penn, Tim Robbins, Kevin Bacon, 138 Min. Start: 27.11.