Brillantes Monster

Kammerspiel aus Kappadokien: »Winterschlaf« von Nuri Bilge Ceylan

1982 ging die Goldenen Palme erstmalig an einen Film aus der Türkei, an »Yol — der Weg«, ein erschütterndes Drama des kurdischen Exilanten Yilmaz Güney. Seit gut zehn Jahren hat vor allem Nuri Bilge Ceylan das lange Jahre durch Militärputsch und Zensur kränkelnde türkische Kino wieder wettbewerbsfähig gemacht. Seine Filme sind brillant fotografiert, thematisch zwischen Dostojewski und Tschechov angesiedelt und stilistisch von Abbas Kiarostami beeinflusst — und vor allem werden sie immer wieder durch eine Figur bestimmt: einen von künstlerischem Geltungsdrang besessenen, liebesunfähigen, kritikresistenten Besserwisser, ein Alter ego des 55-jährigen Ceylan. In seinem mit der Goldenen Palme ausgezeichneten über dreistündigem Drama »Winterschlaf« heißt diese Figur Aydin, ein Gelegenheits-Kolumnist und ehemaliger Star-Schauspieler aus wohlhabender Familie, der es nicht schafft, sein geplantes Buch über die Geschichte des türkischen Theaters in Angriff zu nehmen.

 

Aydins Hotel, das er zusammen mit seiner Schwester und seiner jungen Frau bewohnt, liegt in der atemberaubenden Felsenlandschaft Kappadokiens. Doch »Winterschlaf« spielt überwiegend in Innenräumen und lebt vor allem von seinen überragenden Dialogen: Aydin fachsimpelt mit Kollegen über Theater und Literatur, mit einem Dörfler über die Wildpferde, die es in der Umgebung noch gibt, und mit seiner Frau Nihal über ihre Beziehung. Doch in allem offenbart sich seine Unfähigkeit, sein Gegenüber zu erreichen oder zu verstehen: Die Selbstachtung eines einheimischen Schuldners demontiert er unrettbar vor den Augen von dessen Sohn, die ländliche Religiosität verachtet er, den Versuch seiner Frau, mit einem Wohltätigkeitsverein etwas Eigenes aufzubauen, macht er durch Polemik zunichte. 

 

Haluk Bilginer, der im türkischen Kino so ziemlich jedes Format von der Blockbuster-Komödie bis zum Low-Budget-Independent-Drama beherrscht, erschafft aus all diesen Selbsterklärungen, Deklamationen, Anschuldigungen, Leutseligkeiten, Hasstiraden einen faszinierenden Charakter, den man hassen kann, bemitleiden oder bewundern. Aydin ist ein brillantes Monster, das verführt und zerstört und gar nicht merkt, dass es genau dies will. Mit dieser entwurzelten Figur ist Ceylans Personendrama durchaus nah dran an der aktuellen dramatischen Zerreißprobe der Türkei zwischen Tradition und Moderne. In seiner Dankesrede widmete er folgerichtig die Goldene Palme den Opfern der Gezipark-Proteste und den über 300 Minenarbeitern, die bei dem Grubenunglück in Soma ums Leben kamen.