Die Erde ist ein gefährlicher Ort

Meeresbiologie, Weltreise, Philosophie, Ökothriller: Lokalmatador Frank Schätzing erobert mit seinem Unterhaltungsroman »Der Schwarm« vermutlich die ganze Welt. Ulrich Noller über das Phänomen Schätzing

Es ist schon beeindruckend, welchen Rummel Frank Schätzings neuer Roman verursachte, lange bevor er überhaupt zu kaufen ist: »Der Schwarm«, so hörte man schon 2003 munkeln, habe das Zeug zum internationalen Bestseller. Kiepenheuer & Witsch bewarb diese angeblich schwerste Schwarte seiner Verlagsgeschichte mit einer speziellen Performance für heimische Journalisten und Buchhändler; mehrere renommierte Verlage haben sich auf einer Auktion um die Taschenbuchrechte gegenseitig in luftige Höhen geboten – und so weiter und so fort.
Dass dieser Hype nicht bloß ein besonders krasser Fall von typisch kölscher Nabelschau ist, sondern tatsächlich der Vorbote eines besonderen Projekts, das wurde nach Weihnachten klar: Da war durchgesickert, dass auch die Hörbuchrechte an dem Buch für einen stattlichen Betrag den Besitzer gewechselt hatten. Und man traf immer öfter in Kneipen höchst beeindruckte Menschen aus dem Verlagsumfeld, die schon mal zwei-, dreihundert Seiten aus dem Buch hatten lesen können. »Unterhaltung, klar,« hieß es dann. »Aber verdammt gute ... das erste Mal seit Jahren, dass ich bis nachts um Vier gelesen habe ... und zwar atemlos...«
Frank Schätzing, so scheint es, hat einen richtig großen Coup gelandet, aber so ganz kann er das alles selbst noch nicht glauben. »Man fühlt sich wie von einem rosaroten Bus überfahren,« so kommentiert der Autor, was mit ihm und seinem Buch zur Zeit geschieht. Klar, ein wenig demonstrative Bescheidenheit kann der Mann sich locker leisten. Buttern muss er eigentlich nicht, schließlich laufen die Dinge für ihn auch so wie geschmiert. Trotzdem nimmt man es dem netten Mittvierziger gerne ab, wenn er offen zugibt, dass er selbst am allermeisten staunt. Frank Schätzing weiß, dass er gut ist in dem, was er anpackt. Er weiß außerdem, dass auch sein Buch gut ist, spätestens seitdem seine Frau ihr Okay signalisierte, als er sie die drei Leitzordner lesen ließ, nach anderthalb Jahren Schreibarbeit. Aber dass »Der Schwarm« so eine Welle auslösen würde, das hätte er in seinen kühnsten Träumen nicht erwartet. Und Schätzing ist einer, der es wissen muss: Der Werbetexter ist einer der Chefs der Agentur Intevi, die unter anderem für die X-Kampagne des Express verantwortlich ist. Ein Produkt ins Gespräch zu bringen, das hat er von der Pieke auf gelernt – aber auch, dass ein richtig dicker Hype selbst mit der besten Kampagne niemals garantierbar ist.
Eigentlich kannte man Frank Schätzing als lokalen Krimimatador. In Köln und um Köln herum waren seine beim Emons Verlag veröffentlichten Bücher sehr erfolgreich, auf Bundesebene spielten sie bisher keine Rolle. Das wird sich jetzt ändern. Von der Regionalklasse in die Champions League – ein Quantensprung ist das aber nur nach außen hin, meint Frank Schätzing. Er selbst habe sich als Köln-Krimi-Autor gesehen. Sein Interesse habe nie darin bestanden, Storys mit Lokalkolorit zu schreiben, sondern in erster Linie einfach gute, spannende Geschichten.
Schwamm drüber, denn: »Der Schwarm« ist definitiv ein Quantensprung in Schätzings Œuvre, nicht nur vom Umfang her. Sprachlich und kompositorisch hält dieser Roman fast durchgängig – d. h. über 1000 Seiten – ein erstaunlich hohes Niveau: Die verschiedenen Ebenen der Erzählung sind brillant montiert; der Suspense verblüfft in immer neuen Wendungen; die Bilder sind vielfältig und wissen wieder und wieder zu überraschen; die Charaktere sind höchst lebendig und verkörpern doch Themen und Konflikte des Stoffes exakt und punktgenau.
Und die Story, mit der diese Themen und Konflikte transportiert werden, hat es in sich: Fischschwärme greifen Fischer an, Wale bringen Boote zum Kentern, Muscheln drängen Tanker von ihrer Route ab, urzeitliche Würmer nagen am Meeresgrund, so beginnt in »Der Schwarm« das menschliche Verderben. Ein Meeresbiologe, ein Walforscher, einige Experten von Ölgesellschaften wundern sich und schöpfen Verdacht. Doch bevor sie recherchieren, kombinieren, warnen können, ereignet sich eine ungeahnte Kettenreaktion. Urzeitliche Kräfte werden frei; der Meeresboden wankt und reißt und bricht; immense Energien wirken auf das Wasser darüber; eine unglaubliche Katastrophe bricht sich ihre Bahn. Das ist erst der Anfang dieser um immer weitere Abgründe reichen, düsteren, dramatischen, facettenreichen Geschichte.
Ein Ökothriller, so scheint es zunächst: Die Natur, die geschundene Kreatur schlägt zurück, und sie tut das auf unerbittliche und endgültige Weise. In Zeiten von Vogelgrippe, BSE und Schlachthauseskapaden ein so phantastisches wie zeitgemäßes Szenario – und doch nichts als eine Finte. Denn natürlich können die Tiere nicht organisiert zurückschlagen, natürlich haben die Wesen der Meere kein Bewusstsein für die Bruchstellen der menschlichen Zivilisation. Hinter ihrem Handeln, so folgern die Wissenschaftler, muss eine unbekannte Kraft, ein fremder Verstand stecken. Tatsächlich entdecken sie in den düstersten, unerforschten Tiefen des Meeres ein unbekanntes, blaues, energetisches Leuchten. Ein Leuchten, gegen dessen Macht und Möglichkeiten sich die Katastrophe, die anfangs halb Europa verwüstete, bald wie ein freundliches Sylvesterfeuerwerk ausnimmt.
»Ökothriller – das ist mir viel zu nah an Birkenstock«, wiegelt Frank Schätzing ab. Für ihn ist »Der Schwarm« einfach nur ein Thriller; einer mit Science Fiction-Elementen; einer mit jeder Menge Handlung und Emotion, aber weiß Gott kein Ökothriller. Auf die Idee, erzählt Schätzing gerne, kam er durch seine Faszination fürs Tauchen, und durch einen Traum: »Da schwebte ich über einer riesigen Wasserfläche, Pazifik oder Atlantik. Plötzlich sah ich einen gigantischen Schwarm Fische, die alle miteinander schwammen: Wale, Haifische, Kraken, Thunfische, weiß der Henker was. Das war ein Schwarm, wie es ihn normalerweise nicht gibt, wie er biologisch nicht existieren kann. Aber diese Fische schwammen alle gemeinsam aufs Land zu – das hatte etwas ungemein Faszinierendes und Bedrohliches zugleich.«
Kino im Kopf. So begann die Entstehung des Romans, und auf dieses Bild verdichtet sich die Handlung in ihrem Verlauf auch immer wieder. Eineinhalb Jahre Schreibarbeit stecken in »Der Schwarm«, erzählt Frank Schätzing – und vier Jahre Recherche. Mit Meeresbiologen, Genetikern, Militärexperten, Erdölkennern, Schiffbauexperten usw. hatte der Autor Kontakt. Manche von ihnen tauchen in der Handlung auf, andere ließen sich von Schätzings Fragen hinreißen, ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse einmal spekulativ zu nutzen. Das macht die ganz besondere Dynamik dieses Katastrophenszenarios, dieses Kampfs um die Rettung der Welt aus: Was Frank Schätzing sich auf der Basis modernster wissenschaftlicher Erkenntnisse ausgedacht und mit moralisch-philosophischen Fragestellungen zusammen gesponnen hat, ist vielleicht nicht sehr wahrscheinlich, aber auf eine verdrehte Weise doch irgendwie vorstellbar und dadurch letztlich auch plausibel. »Wir leben in einer Pause zwischen Katastrophen« sagt Frank Schätzing. »Wir denken, dass gewaltige Vulkanausbrüche, Meteoriteneinschläge oder 30 Meter hohe Tsunamis irgendwann vor 30.000 Jahren im Wilden Westen der Erdgeschichte vorgekommen sind. Aber tatsächlich kann das jederzeit wieder passieren, die Erde ist ein gefährlicher Ort.«
Ein Ort, den sich Frank Schätzing trotzdem von Köln aus zu erobern anschickt. Nur zwei Dinge sind dem Autor bei alledem misslungen: Die aktuelle Politik der Bush-Administration wird allzu plump holzschnittartig karikiert, korrekt gedacht, aber schlecht gemacht. Und eine Szene, in der ein nacktes Paar auf dem Motorrad vor giftigen Krebsen flieht, ist eher lächerlich denn lustig. Dass Schätzing ausgerechnet diese Stelle bei Lesungen vorträgt, ist vielleicht das klarste Zeichen, wie wenig dieser Autor selbst bisher realisiert hat, welch Wurf ihm mit seinem Roman gelungen ist.
Frank Schätzing: Der Schwarm. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004. 998 S., 24,90 €.
StadtRevue verlost:
5 Exemplare des Buches: Email bis 10.3. an verlosung@stadtrevue.de, Stichwort »gefährlich«.