Unbekannte Slums

Reportage: Karl-Markus Gauß’ Bericht aus slowakischen Roma-Ghettos »Die Hundeesser von Svinia«

Die Slowakei ist die Unbekannte unter den Staaten, die 2007 in einer zweiten Osterweiterung zur EU stoßen werden. Vor allem die Jugend des Landes setzt große Hoffnungen in diesen Termin. Sie ist hoch motiviert, flexibel, ideenreich und wird deshalb, so der österreichische Experte für mitteleuropäische Alltagswelten, Karl-Markus Gauß, eine tragende Rolle bei der Gestaltung eines neuen Europa übernehmen. Auf seinen Reisen, die der Autor in den letzten Jahren in die Slowakei unternahm, zeigte sich, dass in Brüssel dennoch die Befürchtung, von einem Heer armer Schlucker überrollte zu werden, größer ist als die Freude auf neue Absatzmärkte.
Dass Gauß bei seinen Recherchen in der Slowakei immer wieder mit politischen Zwangsmaßnahmen gegen die potenziellen Emigrationsbettler und -diebe der westeuropäischen Fußgängerzonen des Jahres 2007 konfrontiert wurde, ist kein Wunder: Sein Reiseziel waren die slowakischen Romaghettos, die sichtbaren Zeichen eines real existierenden Apartheitssystems im geografischen Zentrum des Kontinents. Just Mitte Februar, als sein Reportageband erschien, berichteten auch die deutschen Hauptnachrichten über das Pulverfass, das die slowakische Regierung mit den
fatalen Mitteln Entwurzelung, Zwangsassimilierung und Vertreibung binnen drei Jahren entschärfen will. Durch die Kürzung der Sozialhilfe hatte man dem Gros der Roma die einzige Lebensgrundlage entzogen. Die Wut der »Degesi« (»Hundeesser«), wie sie sich selber nennen, entlud sich in offenen Straßenschlachten.
Ein Ghetto am Rand des ostslowakischen Svinia steht im Zentrum des sensiblen und kenntnisreichen Berichts aus unbekannten Slums des 21. Jahrhunderts. Niemand weiß, wann die rund 650 »Degesi« dort in einer Plattenbausiedlung, deren Abwassernetz nicht funktioniert und deren Stromversorgung lebensgefährlich ist, Quartier bezogen haben. Als eine Hilfsorganisation eine Schulspeisung initiierte, um den Roma-Kindern eine warme Mahlzeit und Kontakt zu ihren slowenischen Altersgenossen zu ermöglichen, hatten sie die Rechnung ohne die Einheimischen gemacht. In der Dorfschule wird seither täglich für alle gekocht. Aber das Essen wird in streng separierten Räumen serviert. Die slowenischen Jungen und Mädchen – die Zukunft des neuen Europa – bekommen Messer und Gabel. Die Kinder der Roma hingegen nur einen Löffel. Man behauptet, ein Roma-Kind sei es schließlich nicht anders gewohnt. Vorher nachgefragt hat man nicht, denn damit hätte man Interesse an einer Verständigung signalisiert. Dies ist nur einer unter vielen Abschnitten, in denen Gauß’ lesenswerte Reportage an das Südafrika der 1970er Jahre erinnert.
Martin Droschke
Karl-Markus Gauß: Die Hundeesser von Svinia. Zsolnay Verlag, Wien 2004, 115 S., 14,90 €.