Freie Sicht aufs Alpenland

»Nieder mit den Alpen – freie Sicht aufs Mittelmeer!« lautete der Schlachtruf, mit dem eine aufgebrachte Schweizer Jugend Anfang der 80er Jahre mehr Raum für eine alternative Kultur forderte.
20 Jahre später hat sich die Lage beruhigt. Die Schweiz gibt sich global – eine gewisse Isolation ist geblieben. Nach wie vor kämpft das kleine Land mit seinem selbstauferlegten Widerspruch: Einerseits will es seine Grenzen nicht aufgeben, andererseits wünscht es sich nichts sehnlicher, als über diese Grenzen hinaus wahrgenommen zu werden. Aber damit tun sich die Eidgenossen schwer.
Die Schweizer Literatur beispielsweise findet in Deutschland wenig Gehör. Dürrenmatt und Frisch sind die Namen, die jeder kennt, das ist die Schweizer Literatur wie sie im schulischen Pflichtprogramm vermittelt wird. Dass mittlerweile eine neue und sehr lebendige Generation von Literaten herangewachsen ist, blieb in Deutschland unbemerkt – und dass obwohl die geschriebene Sprache, zumindest was die Deutschschweiz anbelangt, dieselbe ist.
Für den Schweizer Verleger Egon Ammann besteht eine Schwierigkeit darin, dass die Schweiz, trotz ihrer Zugehörigkeit zur deutschen Literatur, mit einem »Exoten-Dasein« zu kämpfen hat. Nicht immer finden Schweizer Autoren für ihre Themen auch in Deutschland eine
Leserschaft – wenn sie denn überhaupt als Schweizer Autoren wahrgenommen werden. Ein weiteres Problem sieht Ammann in der Tatsache, dass es der jungen Schriftstellergeneration an großen Themen mangelt- ein Problem, das allerdings nicht nur die Schweiz betreffe.

»Obwohl die Sprache die gleiche zu sein scheint, ist sie es nicht«

Ammanns Verlegerkollege Urs Engeler nennt zweierlei Gründe für die mangelnde Präsenz der Schweizer Literatur. Einer sei hausgemacht: »Literatur als Kunstform spielt in der Schweiz eine geringe Rolle. Am ehesten wird sie wahrgenommen in gesellschaftspolitischer Hinsicht, also als Ausdruck oder Thematisierung einer gesellschaftlichen Entwicklung«. Zum anderen sei es ein »deutsches« Problem: »Obwohl die Sprache die gleiche zu sein scheint, ist sie es nicht: das Deutsch der Schweizer ist ein anderes, weil ihr Leben anders funktioniert, die Erfahrung und Wahrnehmung andere sind, und das hinterlässt deutliche Spuren im Ausdruck. Was aber anders ist, fällt in Deutschland aus.«
Was den Lyriker Christian Uetz als Schweizer entlarvt, ist sein Name, weniger seine Sprache. Er ist einer der Gäste des 5. internationalen Lyrikfestivals in Köln, das, neben Lyrikern aus Ost-Europa, in diesem Jahr vor
allem Schweizer AutorInnen ein Forum bieten soll.
Uetz ist bekannt für seine Sprachakrobatik. Seine Gedichte sind Wortkaskaden, die sich nicht nur auf dem Papier, sondern auch auf der Zunge ereignen. Nicht zufällig zählt Uetz zu den herausragenden Erscheinung in der spoken poetry Szene.
Hinter der Lust am lautmalerischen Spiel verbirgt sich die ernsthafte Suche nach einem anderen Verständnis von Sprache: »Wer das Verstehen nicht liebt, liebt das Wort nicht, das ihn verstört«. Uetz verfremdet die Sprache und erschafft sie zugleich neu. Lautassoziationen wie »Tolldtallität« und »warnhaft« werfen sprachphilosophische Fragen auf. Die Sprache selbst wird zum eigentlichen Thema – unabhängig von jeder dialektalen Färbung.
Weit schweizerischer geht es in Michael Stauffers »Das neue Heimatgedicht« zu: »S’genau gliiche Schiisgrüe het er müese chaufe« heißt es in einer Gedichtzeile. Stauffers 50 Versuche zu einem neuen Heimatgedicht beschränken sich nicht auf den Gebrauch des Schweizerdeutschen, sondern nähern sich dem Begriff Heimat augenzwinkernd auf verschiedenen Wegen.

»Haus gebaut, Kind gezeugt, Baum gepflanzt. So lebt ein Arschloch. Du bist ein Arschloch«

Seine Prosatexte hingegen sind weitgehend frei von schweizerischen Bezügen. Er wählt eine Sprache ohne überflüssige Schnörkel und besticht mit einer pointierten Schlichtheit. Die Sätze sind kurz und prägnant, manchmal messerscharf. »Ein Mann liebt eine Frau. Das ist grundsätzlich und sowieso eine falsche Annahme. Es ist immer die Frau, die liebt.« So beginnt Stauffers neuster Prosaband mit dem unerhörten Titel: »Haus gebaut, Kind
gezeugt, Baum gepflanzt. So lebt ein Arschloch. Du bist ein Arschloch«. Sein radikaler Text setzt sich liebevoll kauzig und gnadenlos boshaft mit den lebensbestimmenden Banalitäten des Alltags auseinander. In 36 Anläufen schreibt sich eine aufgebrachte Ich-Erzählerin ihre verzweifelte Wut über die Unmöglichkeit der Verbindung von Mann und Frau vom Hals. Aus ihren Worten spricht Hass und bitterböse Enttäuschung, aber auch der Wunsch nach einer Geborgenheit, die es nicht gibt – auch nicht im Schweizer Alpenland.
Von »hochgedeutschtem Schweizer Singsang« sprach ein Kritiker der Frankfurter Rundschau in einer ansonsten euphorischen Rezension über Michael Stauffer. Bestimmt war diese Formulierung nicht wertend gemeint – und doch bleibt ein arroganter Beigeschmack. Uetz und Stauffer sind nur zwei Protagonisten einer innovativen Schweizer Literaturszene, angesichts derer man den Deutschen nur raten kann: »Nieder mit den Wahrnehmungsschranken – freie Sicht aufs Alpenland!«

Michael Stauffer: Haus gebaut, Kind gezeugt, Baum gepflanzt. So lebt ein Arschloch. Du bist ein Arschloch. Urs Engeler Editor, Basel 2003, 59 S., 14,50 Euro.
Christian Uetz: Das Sternbild versingt. Gedichte. Suhrkamp, Frankfurt a/M. 2003, 89 S., 7 Euro.

StadtRevue präsentiert:
6. Atlas der Neuen Poesie - Internationales
Lyrikfestival Köln, veranstaltet vom Kölner Literaturhaus, 1.7. bis 3.7. in der Orangerie im Volksgarten, Beginn jeweils 20 Uhr.

1.7. Friederike Mayröcker
2.7. Schweizer Abend mit Urs Allemann, Michael Stauffer, Christian Uetz, Raphael Urweider

3.7. Slowenische und Slowakische Lyriker:
Tomaz Salamun, Mila Haugová, Ales Steger

Wir verlosen für jeden Abend 3 x 2 Gästelistenplätze, Wunschtermin bitte angeben. Email bis 28.6. an verlosung@stadtrevue.de, Stichwort »Lyrikatlas«