Sentimentale Flashbacks

Mit ihrem Debüt »Phantom Delia« spricht die Kölner Produzentin und DJ Lena Willikens dem Kontrollverlust das Wort

»Jetzt fühle ich mich echt desolat«, kommt es aus Lena Willikens heraus. Warum auch nicht, schließlich ist es 11 Uhr morgens und sie hat gerade erst ihr dreistündiges DJ-Set im Amsterdamer Club Trouw beendet. Trotz der zuletzt ansteigenden internationalen Nachfrage nach ihr kein ganz gewöhnlicher Auftritt, denn immerhin gilt das Trouw derzeit neben dem Berghain als der wichtigste Club Europas. Außerdem hatte die Nacht noch ein besonderes Ereignis zu bieten. »Mitten im Set ist der Strom ausgefallen«, berichtet Willikens. »Jemand hat den Feueralarm ausgelöst, so dass ich fünf lange Minuten keine Musik spielen konnte. Aber ich mag so etwas Unvorhergesehenes, gegen das man nichts tun kann, es eröffnet neue Möglichkeiten.«

 

In der Tat passt ein derartiger Vorfall gut zu einer Künstlerin, die sich in ihren Sets und Produktionen nicht bequem einrichten möchte. Wo andere den einmal gefundenen Sound auf Sicherheit bedacht beibehalten, sucht Willikens geradezu die Herausforderung. Ihre Sets leben von der Vielfalt der Genres und der energischen und zugleich gefühlvollen Art, wie sie Wave, Electro, Techno sowie Sounds aus eher ungewöhnlichen Clubgefilden wie Ethno- und Obskure Musik mit einander verwebt. Ein Stil, den sie mit ihren liebevoll zusammengestellten »Sentimental Flashback«-Sendungen auf Radio Cómeme über die Jahre perfektioniert hat. »Ich merke jetzt so langsam, wie sich alles bei mir gegenseitig befruchtet«, merkt sie an. »So gerät man nicht in Routinen. Die eigentlich nicht auf den Dancefloor abzielende Radioshow etwa beeinflusst meine DJ-Sets.«
Gerade die DJ-Sets erfordern aufgrund der Sensibilität, mit der Willikens herangeht, viel Zeit und Energie. Wie wenige andere reflektiert sie intensiv Land, Clubgröße, Settime, die anderen DJs oder etwa, welche Drogen auf der Tanzfläche wohl am angesagtesten sind. »Ich nehme mir viel Zeit für die Vorbereitung, da ich mich ungerne wiederhole«, erzählt sie. »Das kommt vor, wenn man die Platten zu schnell in die Tasche wirft. Außerdem überlege ich mir eine Dramaturgie, die aber nie so richtig aufgeht, da man sich ja auf die Leute einlassen will. Das sind so Ideen, dass man nach einer Phase des Gasgebens die Tanz­fläche wieder runterholt, sphärischer wird.« Alles Aspekte, die auch auf »Phantom Delia« Einfluss genommen haben, ihr Debüt auf dem Berliner Cómeme Label. Dass dieses erst jetzt erscheint, liegt an den vielen Spielwiesen, auf denen die sich selbst kurioserweise als undiszipliniert bezeichnende Künstlerin aktiv ist: gemeinsam mit Kreidler Mitglied Detlef Weinrich betreut Lena Willikens das Booking im Düsseldorfer Salon des Amateurs, mit Melanie Wratil unterhält sie die Noisewaveband Titanoboa, und dann arbeitet sie noch zeitweise in den Kölner Plattenläden Groove Attack und a-Musik.

 

Hört man nun »Phantom Delia«, so will man auch gar nicht hadern mit all diesen Verzögerungen, denn sie haben die sechs Stücke der Veröffentlichung zu etwas reifen lassen, das von großer Aussagekraft ist. Willikens entwirft eine düstere, geisterhafte, gefährlich köchelnde Grundstimmung, irgendwo zwischen Wave-Electro und Oriental-Techno. Hier heulen die Wölfe, stöhnt die Künstlerin, verliert das Nilpferd die Orientierung und vibrieren die Beats, Claps und HiHats. »Ich fühle mich wie ein Puzzle aus einer Millionen Einflüsse, über die ich keine Kontrolle habe«, führt Willikens aus. »Obwohl ich immer mit einer bestimmten atmosphärischen Vorstellung, wie ein Stück klingen soll, beginne, verliere ich im Verlauf die Kontrolle komplett, aber das ist ein schönes Gefühl.« Denn so Detailversessen, sorgfältig und selbstkritisch sie bei der Arbeit vorgeht, so sehr mag sie es, wenn die Dinge einen eigenen Lauf bekommen.

 

Matias Aguyao, der Betreiber von Cómeme Records, spricht davon, dass Lena Willikens schon immer ein Star war. Damit meint er, dass sie eine einnehmende Präsenz besitzt. Das hat viel mit ihrer Freudigkeit am Diskurs zu tun. In Zeiten, in denen erfolgreiche weibliche DJs wie die BBC1-Radiomoderator Annie Mac den feministischen Diskurs innerhalb der elektronischen Musikszene beendet sehen wollen, ist es ihr ein großes Anliegen, dieses Thema auf der Agenda zu halten. »Ich finde es schade, dass alles noch immer so Männerdominiert ist«, betont sie. »Das sieht man unter anderem daran, dass ich oft die einzige Frau im Line-up bin. Natürlich kann es nicht das Ziel sein, nur gebucht zu werden, weil man eine Frau ist, aber grundsätzlich sollten die Leute die Unausgeglichenheit wenigstens reflektieren, wenn sie schon nicht gewillt sind, sie zu ändern.«

 

Während die Sonne sich langsam am Amsterdamer Himmel durchsetzt, ist für Lena Willikens jetzt jedoch erstmal der Feierabend gekommen. Müde entfernen wir uns langsam vom Trouw, der Türsteher ruft ihr noch nach, wie toll sie aufgelegt habe, und dass man sich bald wieder sehe. Ein Versprechen, das nur zwei Monate später tatsächlich wahr werden sollte. Obwohl das Trouw zum Jahresende die Pforten Gentrification bedingt für immer schließen musste, und ein Club dieser Größenordnung auf Monate verplant ist, wurde sie noch einmal eingeladen, spontan. Eine große Ehre. Dem sentimentalen Flashback von »Phantom Delia« kann sich eben niemand entziehen.