Mikrokosmos Taxi

Hat die Kritik doch Einfluss? Der Wettbewerb der 65. Berlinale war überraschend stark

Vom Konkret-Redakteur zum Helmut Kohl der deutschen Filmlandschaft: Dieter Kosslick ist einen weiten Weg gegangen. Der Vergleich zu Kohl wurde mehrfach gezogen, als im November Kulturstaatsministerin Monika Grütters den Vertrag des Berlinale-Leiters noch einmal um drei Jahre verlängerte. Bis 2019 wird Kosslick also für das wichtigste deutsche Filmfestival verantwortlich sein. Er ist dann 70 Jahre alt und seit 2001 im Job, das heißt, locker länger im Amt als Helmut Kohl Kanzler war.

 

Weder Alter noch Amtszeit sind zwingende Argumente für einen Wechsel der Leitung. Aber verärgert hat viele, dass Kosslicks Vertrag ohne Ausschreibung oder auch nur Diskussion verlängert wurde, obwohl die in- und ausländische Presse immer wieder massive Kritik am Programm besonders des Wettbewerbs geäußert hat. Die deutlichsten Worte fand der Filmkritiker Rüdiger Suchsland in einem Kommentar für das Online-Magazin Negativ: »Dieter Kosslick steht für das Gegenteil von Offenheit, Vielfalt und kreative Kontroversen. Er steht für nahezu alles, was am Gegenwartskino schlecht ist. Mit ihrem Verhalten belegt Grütters, was sie, so muss man fürchten, noch weiter belegen wird: Dass sie als Filmministerin bisher ein Totalausfall ist, eine Niete.«

 

Aus der Schärfe der Worte spricht auch die Frustration. Wer nicht gehört wird, fängt irgendwann an, zu schreien und Differenzierungen über Bord zu werfen. Aber Suchsland und zumindest die organisierten Kollegen geben sich nicht länger mit der undankbaren Aufgabe der ewigen Nörgler zufrieden. Dieses Jahr veranstaltete der Verband der deutschen Filmkritik erstmals eine »Woche der Kritik« zeitgleich zum Festival. Dabei wurde unter anderem Christoph Hochhäuslers großartiger Polit-Thriller »Die Lügen der Sieger« präsentiert, der vergangenen Herbst in Rom Weltpremiere hatte. Die Idee einer Kritikerwoche ist nicht neu: In Cannes und Venedig gibt es schon lange ähnliche Veranstaltungen, bei denen Filmjournalisten ihre Favoriten vorstellen, mit anschließenden Diskussionen. Der Unterschied liegt allerdings darin, dass die Berlinale nie ein sonderlich exklusiver Club war. Dieses Jahr wurden im Rahmen des Festivals weit mehr als 400 Filme gezeigt – gut die vierfache Anzahl der beiden größten europäischen Konkurrenten Cannes und Venedig. Braucht man da noch mehr Angebot?

 

Zumindest der Auftakt war gut besucht und zeichnete sich durch provokante Wortbeiträge aus. Allerdings hatte man bisweilen den Eindruck, auf einer Pro-Asyl-Veranstaltung gelandet zu sein, denn zunächst ging es nicht in erster Linie um Film, sondern um die Flüchtlingsdebatte. Was auch daran gelegen haben dürfte, dass die gesamte Woche der Kritik von der Heinrich-Böll-Stiftung, die den Grünen nahesteht, unterstützt wurde. Die Unabhängigkeit einer unabhängigen Veranstaltung hat also – wie sollte es auch anders sein – spätestens bei der Finanzierung ihre Grenzen. Sechs Redebeiträge musste das Publikum hinter sich bringen, bevor endlich die Leinwand freigegeben wurde für »Brûle la mer« von Nathalie Nambot. Ihr auf 8mm und 16mm gedrehter Essayfilm gibt Flüchtlingen, die illegal aus Tunesien nach Frankreich gekommen sind, eine Stimme, ohne dabei einfach nur »Problemfilm« zu sein. Stattdessen verleihen die Off-Texte der Protagonisten und das wunderbar körnige Material »Brûle la mer« eine Poesie, die den Film über den Alltag des gut gemeinten engagierten Kinos heraushebt, den Dieter Kosslick so gerne am Potsdamer Platz präsentiert.

 

Oder muss es »präsentierte« heißen? Denn just in dem Jahr, in dem die »Woche der Kritik« eine Alternative zu den Kosslick-Festspielen anbot, legte der Vielkritisierte das spannendste Wettbewerbsprogramm seiner langen Regentschaft vor – unter anderem mit einer Reihe von Filmen mit politischer Relevanz, die eben nicht wie früher so oft formal den kleinsten gemeinsamen Nenner suchten.

 

»Pod electricheskimi oblakami« von Alexej German Jr., der am Ende einen Silbernen Bären für die beste Kamera erhielt, ist so ein Film: ein Science-Fiction in einzigartigen neblig-milchigen Bildern, der eher eine Abrechnung mit den vergangenen 25 Jahren postsowjetischer Orientierungslosigkeit ist. Ein Film, der so prall gefüllt ist mit Metaphern und Anspielungen, dass man sich als westlicher Zuschauer manchmal einen Fußnotenapparat gewünscht hätte. Hoffentlich wird es ein deutscher Verleih wagen, den Film hier in Kinos zu bringen, damit man man eine zweite Chance bekommt, »Pod electricheskimi oblakami« zu enträtseln.

 

Pablo Larraíns »El Club«, der mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde, fällt auf den ersten Blick ebenso durch eigenwillige Kameraarbeit auf. Und dadurch, dass es lange rätselhaft bleibt, worum es eigentlich geht. In einem heruntergekommenen chilenischen Fischerdorf haust eine seltsame WG: Die vier schweigsamen Männer und eine Frau scheinen keiner geregelten Arbeit nachzugehen. Geld machen sie ab und zu damit, dass ihr Windhund bei Rennen gewinnt. Erst nach und nach wird klar, dass die Männer allesamt ehemalige Priester sind, die die Kirche hierhin verbannt hat – auch um sie vor Strafverfolgung wegen Kindesmissbrauchs zu schützen. Gezeigt werden sie häufig in trübem Gegenlicht, das die Szenerie in eine bedrückende Atmosphäre taucht. Die ganze Ortschaft am Rande der Welt scheint von Gott verlassen.

 

Erstaunlich leicht wirkte dagegen Jafar Panahis »Taxi«, der von der Jury rund um den US-Regisseur Darren Aronowsky mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde. Die Aussage bezieht sich natürlich darauf, dass Panahi in seiner Heimat unter Reise- und Berufsverbot steht und ihm weiterhin eine sechsjährige Haftstrafe droht. Sein vorletzter Film »Pardé« beschäftigte sich auf sehr düstere Art mit den begrenzten Möglichkeiten, die er als Künstler noch hat. Der Film spielte in einem festungsartigen Haus. »Taxi« dagegen wagt sich, wie der Titel nahelegt, wieder hinaus. Da heißt hier: quer durch Teheran. Panahi schlüpft in die Rolle eines Taxifahrers, die Kamera ist auf dem Armaturenbrett angebracht. Beide verlassen während des gesamten Films das Auto nicht, und doch gelingt »Taxi« ein wunderbares Miniatur-Porträt der iranischen Gesellschaft. Damit nicht genug: Panahi reflektiert zugleich das Medium Film selbst auf eine so humorvolle und großzügige Art, dass man sagen kann: Selten hat ein Regisseur der Filmgeschichte mehr aus so begrenzten Möglichkeiten herausgeholt.

 

Sicher, es kann Zufall sein, dass die Berlinale dieses Jahr so starke Filme im Wettbewerb präsentierte – Ausnahmen waren die meisten deutschen Beiträge –, aber insgesamt lässt sich in den vergangenen drei Jahren ein Aufwärtstrend feststellen. Vielleicht haben die Kritiker mit ihren Klagen ja doch etwas bewirkt.