10 Prozent besitzen 90

Mit ihrem Projekt Gut und Irmler denken die ehemalige Malaria!-Sängerin und heutige Betreiberin von Monika Enterprises Gudrun Gut und das Faust-Bandmitglied Hans-Joachim Irmler rhythmische Klarheit und von Krautrock durchwirkte Freiräume zusammen

In einem Popbetrieb, in dem einmal gefundene Muster kaum in Frage gestellt werden, ist es eine erfrischende Erfahrung, auf zwei Musiker zu treffen, die sich trotz bereits langen Karrieren nicht nach Routine und Sicherheit sehnen, sondern immer wieder die Erfahrung des Neuen suchen. Nicht zuletzt, da sie sich offen für untypische Zusammenarbeiten zeigen. »Jochen ist der Orgelmeister, ich hingegen bin eher rhythmisch orientiert«, beginnt Gudrun Gut ihre Ausführungen, warum sie auf den Organisten von Faust zugegangen ist. »Als großer Krautrockfan hat es mich gereizt, dass er etwas Elegisches einbringen würde, etwas, was mir selbst nie in den Sinn käme. Ich empfinde Kooperationen mit anderen Musikern immer als toll, da man für sich selbst viel Neues aus ihnen mitnimmt.« Irmler ergänzt: »Wir wollen uns ja weiterentwickeln. Wir wollen nicht auf diesen Treppen von annodazumal stehenbleiben.«

 

Wir sitzen in der Künstlergarderobe des FFT Düsseldorf, wo die beiden am Abend ein Konzert mit Stefan Schneider (Kreidler, To Rococo Rot) und Hans-Joachim Roedeluis (Cluster, Harmonia) geben werden, die gerade als Roedelius Schneider mit dem Album »Tiden« ebenfalls ein sehr reizvolles Generationenprojekt veröffentlicht haben. Kennengelernt haben sich Gut und Irmler bei einem Festival in London in der Queen Elizabeth Hall, auf dem sie wiederum mit anderen Combos präsent waren: Gut mit ihrer Band Greiye-Gut-Fraktion, Irmler mit To Rococo Rot. »Er hatte eine Flasche Schnaps aus seiner Gegend dabei, das fand ich sehr sympathisch«, erinnert sich Gut. Bei der Gelegenheit outete sich Irmler zudem als Fan Guts seit den Tagen ihrer früher Band Malaria! — danach kam eins zum anderen.

 

Man habe sich an die Zusammenarbeit herangetastet, erzählt Irmler. »Zunächst haben wir einen großen Raum zusammen besetzt und dann in einem steten Prozess der Überraschungen eine potentielle Funktionsweise ausgelotet.« Wesentlich dabei sei gewesen, das betonen beide im Gespräch immer wieder, dass man sich gegenseitig alle Freiheiten der Welt gewährt habe. So konnte Gut ihren in den 80er und 90er Jahren geschulten, minimalen, sehr rhythmischen Sound einbringen, und Irmler seinen in den 70er Jahren wurzelnden, mäandernden Krautrock. Während er, der ewige Orgelspieler also in ein psychedelisches Mantra aus Zeit und Gefühl eintauchte und in einem fort improvisierte, war es Guts Rolle als Fricklerin, darauf mit Ordnung zu antworten, indem sie auf Details immer wieder recherchierte und sie modifizierte und so den sich ausbreitenden Melodien eine klare Rhythmusstruktur zur Seite stellte. Dazu gesellt sich ihre ganz eigene, minimale Art zu singen.

 

Hört man das so entstandene Album »500m«, so merkt man nichts von der Soundkluft aus analogen und digitalen Arbeitsweisen und den darin angelegten Reibungen. Es ist vielmehr ein schönes Beispiel dafür, wie aus einem Dialog unterschiedlicher Positionen eine gemeinsame Stimme entstehen kann, in diesem Fall jene der künstlerischen Kommunikation.

 

Wesentlich dabei sei gewesen, dass sie ohne Ängste agiert hätten, sich mit viel Großzügigkeit begegnet seien, merken beide an. Aufgenommen wurde nämlich im Herbst 2013 zunächst in Irmlers Faust-Studio im süddeutschen Scheer, abgemischt danach in Guts Studio, das auf ihrem Landwohnsitz in Sternhagen bei Berlin liegt. Man verbrachte viel Zeit gemeinsam, bekochte sich, ging spazieren — und fand so auch beiläufig den Albumtitel »500m«, in dem man durch eine Infotafel erfuhr, dass das Studio exakt 500 Meter über dem Meeresspiegel liegt. So etwas sei ja ein wichtiger Aspekt, gibt Gut zu verstehen, und Irmler ergänzt in seiner oft recht geheimnisvollen Art: »In dieser Angabe konnten wir uns schnell wiederfinden.«

 

Die beiden Arbeitsorte hatten den Vorteil, dass Gut und Irmler völlig ungestört produzieren konnten. Schließlich sei es ja schon immer so gewesen, dass man auf dem Land weniger Ablenkung erfahre, führt Irmler aus. »Die Konzentration des Arbeitens ist dort viel größer, die Wahrscheinlichkeit, dass man bei der Sache bleibt viel höher, als wenn man jeden Abend noch um die Gemeinde rumzieht.«

 

So dicht und stimmig das Album für sich klingt, so wichtig sind doch auch die Konzerte, um das ganze Spektrum dieser künstlerischen Zusammenkunft zu erfahren. In einer gelungenen Mischung aus definierten, sehr ­klaren Songstrukturen und freien Parts, tarieren sie das Material in einem nie endenden Dialog-Prozess stets aufs Neue aus. Verbildlicht in den Videoarbeiten von Gudrun Gut, die während der Auftritte auf einer Leinwand hinter den beiden laufen und in denen sie private und anonyme Visuals verknüpft und so analog zur Dichotomie der Musik auch hier eine Einheit aus konkreten und vagen Momenten entstehen lässt. »Man erkennt, dass alles zusammengehört, auch wenn man kurz denkt: Was soll das denn?«, merkt Irmler an.

 

Mit den Ergebnisse sind beide Protagonisten so zufrieden, dass bereits die Pläne für das zweite Album gemacht sind — und auch der Titel steht fast fest: Es wird entweder »10 Prozent« oder »90 Prozent« heißen. »Denn 10 Prozent besitzen 90«, erklärt Gut und meint damit natürlich die Besitzungleichheit auf unserer Welt. Man würde sich wünschen, dass es nicht immer der Veteranen bedürfte, um wieder solche Gedanken im Popbetrieb repräsentiert zu sehen.