Kino der Regionen

Wenig Frauen, kaum Deutsche, aber viele gute Filme – am Samstag ging das diesjährige Filmfestival von Cannes zu Ende

Vor sieben Jahren, zur Feier des 60. Geburtstags, hatte das Festival von Cannes 35 renommierte Regisseure eingeladen, als Hommage einen Kurzfilm zu drehen, der sich mit dem magischen Ort Kino auseinandersetzt. Genauer gesagt waren es 34 Regisseure und eine Regisseurin. Die Frau unter den vielen Männern war auch die einzige Frau, die in Geschichte des Festivals eine Goldene Palme gewonnen hatte: Jane Campion. Die Australierin, eine explizit feministische Filmemacherin erinnerte sich hinterher daran, dass dieses Missverhältnis eigentlich allen anwesenden Filmemachern peinlich gewesen sei.

Dieses Jahr war Campion in Cannes Jurypräsidentin in einer mehrheitlich mit Frauen besetzten Jury – und um es gleich vorwegzunehmen: Sie bleibt weiterhin die einzige Hauptpreisträgerin der Festivalgeschichte. Etwas anderes war auch kaum zu erwarten, denn von den 18 Filmen, die dieses Jahr um die Goldene Palme konkurrierten, wurden nur zwei von Frauen gedreht – immerhin eine enorme Steigerung gegenüber 2012, als nicht eine Regisseurin im Wettbewerb vertreten war.

Die zweithöchste Auszeichnung des Festivals, der Große Preis der Jury, ging allerdings an die junge Italienerin Alice Rohrwacher, der als dritte Frau diese Ehre zuteil wurde. Ihr Film »Le meraviglie« ist ebenso eigensinnig, wie die Familie, die im Zentrum der Geschichte steht. Aus der Sicht der ältesten Tochter Gelsomina wird von den Alltagsproblemen eines deutsch-italienischen Paares mit offenbar linksradikaler Vergangenheit erzählt, das mit ihren drei Töchtern und einer alleinstehenden Freundin in einem abgelegenen Hof in Mittelitalien lebt. Das Geld ist immer knapp. Auch die Kinder müssen mithelfen, damit alle mit der Herstellung von Honig über die Runden kommen können. Einen Ausweg scheint eine bizarre TV-Show zu bieten, die das etruskische Erbe der Region und dessen regionale Produkte feiert. Ein zunächst bescheiden wirkender, aber sehr reichhaltiger Film, der auch deshalb auffällt, weil er auf dem nur noch selten zu sehenden analogen Super-16-Material gedreht wurde.

Die Goldene Palme ging völlig verdient an den türkischen Filmemacher Nuri Bilge Ceylan, der bereits zwei Mal auf dem Festival mit dem Großen Preis der Jury und einmal mit dem Regiepreis ausgezeichnet wurde. Sein über dreistündiger »Winter Sleep« zeugt von großem Selbstbewusstsein und Ambitionen, verbindet aber ebenfalls eine Familiengeschichte mit starken regionalen Bezügen.

Im Mittelpunkt steht der alternde Schauspieler Aydin, der mit seiner jungen Frau und seiner geschiedenen Schwester in einem von seinem Vater geerbten Hotel in Kappadokien lebt. Die Region in Zentralanatolien besticht durch ihre irreal wirkende Felsenlandschaft, in die die menschlichen Behausungen teilweise hineingehauen wurden. Ein passendes Bild für die Protagonisten, die sich längst in ihre emotionalen Höhlen zurückgezogen haben und eher nebeneinander als miteinander leben. Als ein kleiner junge aus dem Dorf einen Stein gegen die Windschutzscheibe von Aydins Geländewagen wirft, beginnt eine Kette von Ereignissen und Konfrontationen, die die festgefahrenen Verhältnisse ins Wanken bringt. »Winter Sleep« besteht hauptsächlich aus langen, brillant geschriebenen Dialogszenen, die meist harmlos anfangen, sich aber nach und nach zuspitzen. Wenn am Ende von den Figuren Shakespeare und Tschechow zitiert werden, dann spielt Ceylan ganz unbescheiden auf seine Vorbilder für »Winter Sleep« an. Das erstaunliche ist, wie Nahe der 57-Jährige mit Hilfe seiner herausragenden Schauspieler und seiner Frau Ebru, die das Drehbuch mitgeschrieben hat, diesen Klassikern kommt. Man kann nur hoffen, dass ein deutscher Verleih es wagt trotz der Dauer des Films, »Winter Sleep« in die deutschen Kinos zu bringen.

Die beiden Hauptdarsteller Haluk Bilginer und Melisa Sözen wären auch würdige Kandidaten für die Schauspielpreise des Festivals gewesen. In einem Jahr, das viele beeindruckende darstellerische Leistungen bot, entschied sich die Jury allerdings eher fürs Grand-Guignol als die subtileren Töne. Als beste Schauspielerin wurde Julianne Moore ausgezeichnet für ihre Rolle als überspannte Diva in David Cronenbergs Hollywoodgroteske »Maps to the Stars«. Den Preis für den besten Schauspieler bekam Timothy Spall für seine Verkörperung des visionären britischen Malers Joseph Mallord William Turner. Spall brummt, grunzt, röchelt und grummelt sich mehr durch Mike Leighs »Mr. Turner«, als dass er redet - was diesem perfekt inszenierten Biopic, das wie so oft im Genre mehr an der Person als am Werk interessierten ist, eine recht exzentrische Note gibt.

Insgesamt war das Niveau der diesjährigen Auswahl – vielleicht auch wegen der relativ geringen Zahl von nur 18 Wettbewerbsfilmen – fast durchgehend beeindruckend hoch. Leider nicht ausgezeichnet wurden Abderrahmane Sissakos meisterhaft inszeniertes Drama »Timbuktu« über die islamistische Bedrohung in Mali und Olivier Assayas vielschichtige Auseinandersetzung mit dem Älterwerden »Sils Maria«. Es gab wenige Ausreißer nach unten: Dass der von der Kritik verrissene »The Search« von Michel Hazanavicius in den Wettbewerb genommen wurde, war nach dem überragenden Erfolg von dessen »The Artist« wohl unvermeidlich. Was das Festival allerdings dazu bewogen hat, Atom Egoyans missglückten Pädophilen-Thriller »Captives« zu spielen, wird wohl ein Geheimnis bleiben.

Natürlich behauptet jedes Festival, die Auswahl der Filme unterliege rein künstlerischen Gesichtspunkten – so  lautete auch die Argumentation als vor zwei Jahren das Fehlen von Regisseurinnen stark kritisiert wurde. Aber ebenso selbstverständlich spielen in der Realität unterschiedlichste Faktoren eine Rolle, was auch nicht negativ sein muss. Damit ein Wettbewerb funktioniert, braucht er eine Bandbreite von Themen und Genres, von bewährten Kräften und Debütanten, von Stars und Sternchen und von Kontinenten und Ländern. Eine stärkere Berücksichtigung von Filmen von Regisseurinnen wäre in dieser Reihe nur ein weiteres zu bedenkendes Kriterium. Kein Wettbewerb eines Festivals, und sei es noch so renommiert, besteht nur aus Meisterwerken. Gleichberechtigung wird es erst dann geben, könnte man also sagen, wenn auch weniger gelungene Werke von Frauen genauso selbstverständlich in eine Auswahl aufgenommen werden wie die von Männern.

Deutschland war übrigens dieses Jahr in Cannes kaum vertreten. Wim Wenders gewann in der Nebensektion Un Certain Regard einen Spezialpreis zusammen mit seinem Ko-Regisseur Juliano Ribeiro Salgado für die Dokumentation »The Salt of the Earth«. Ein Film über dessen Vater, den Fotografen Sebastião Salgado. In einer anderen Nebensektion lief der Kurzfilm »Torn« der Kölner ifs-Absolventen Elmar Imanov und Engin Kundag (mehr dazu im Juli-Heft der StadtRevue). Dabei war vor dem Festival über viele bekannte deutsche Filmemacher spekuliert worden, deren Filme fertig sind oder kurz vor der Fertigstellung standen. Aber weder Fatih Akin, noch Christian Petzold, Andreas Dresen oder Christoph Hochhäusler waren am Ende im Programm vertreten. Einige dieser Filme werden mit Sicherheit im Herbst in Venedig und/oder Toronto auftauchen.

Kulturstaatsministerin Monika Grütters verkniff sich bei ihrem ersten Besuch in Cannes weise einen Kommentar zur Auswahlpolitik des Festivals, erklärte Deutschland stattdessen forsch mit insgesamt 214 im letzten Jahr auf Internationalen Festivals gewonnen Preisen und einem heimischen Publikumsanteil deutscher Filme von 26 Prozent zu einer der erfolgreichsten Filmnationen der Welt. Bei genauerer Betrachtung reicht es bei letzterem Wert zwar nicht ganz zur Spitze in Europa (in Frankreich, Italien und Dänemark waren die Werte besser), aber Zahlen sind nun mal geduldig. Und was die Festivals angeht: Dem deutschen Film bleibt ja immer noch die Berlinale.