»Der Film sollte nichts Harmonisches haben«

Ein Seitensprung mit Folgen: Regisseur, Drehbuchautor und Hauptdarsteller Mathieu Amalric über Das blaue Zimmer, George Simenon und die Vorteile des Normalformats

»Das blaue Zimmer« basiert auf einem Roman von Georges Simenon aus dem Jahr 1964, der von einer Amour fou mit fatalen Folgen erzählt. Wie kommt man auf die Idee, gerade diesen Roman zu adaptieren? Es begann eigentlich nicht mit einer Idee, sondern damit, dass Produzent Paolo Branco mir sagte: »Schreib etwas, mach’ einen Film, und zwar schnell!« Er meinte, er könne mir drei Wochen geben. Wir haben den Film dann in fünf Wochen realisiert. Mehr Zeit hätten wir auch nicht benötigt. Ich kenne das Buch schon lange. Was mich daran immer fasziniert hat, war das Spiel mit den Zeitebenen, mit der Vergangenheit, Gegenwart und der Zukunft. Als Leser ist man im Ungewissen darüber, was real und was möglicherweise nur eingebildet ist.

 

 


Bei Simenon haben Frauenfiguren oft etwas Dämonisches, fast Hexenhaftes. Wie lässt sich das mit einem moderneren Bild vereinbaren, ihr Film spielt ja in der Gegenwart?

 

Das ist tatsächlich die Krankheit von Simenon. Eigentlich bestraft er sich damit selbst für sein Begehren: Er peitscht sich dafür aus. Ich habe gemeinsam mit Stéphanie Cléau (Ko-Drehbuchautorin und Hauptdarstellerin, Anm. d. Red) versucht, diese Tendenz etwas abzuändern. Im Film gehen Julien und Esther Hand in Hand in diese Leidenschaft; auch wenn es immer noch der Mann ist, der zu widerstehen versucht. Mir gefiel diese Dynamik von heiß und kalt: Einerseits ist da das Geheimnis einer körperlichen Anziehung. Wir kennen alle diese Momente der Leidenschaft: Man ist ganz woanders, das Umfeld existiert nicht mehr. Das ist das Heiße der Geschichte; das Kalte kommt mit der Analyse danach.

 

Wobei es dann weniger um die Frage des Schuldigen geht, wie beim klassischen Detektivfilm ...

 

Simenon schreibt nicht, wen die Schuld trifft. Im Film sagen wir es zwar auch nicht, aber wir liefern eine Hypothese. Es war uns wichtig, subtil vorzugehen. Vieles von diesem Spiel wird natürlich erst durch den Schnitt hergestellt: Es sollte nicht immer ganz klar sein, an welcher Stelle der Geschichte eine Szene stattfindet.

 

Weil Sie den Schnitt erwähnt haben: Der Roman befasst sich ja vor allem mit der Mehrdeutigkeit von Sprache. Wie übersetzt man dies in Bilder, ohne es eindeutiger zu machen?

 

Ich hatte das Gefühl, dass gerade das Kino diesem sehr auf Dialoge und innere Reden konzentrierten Roman etwas Spezifisches hinzufügen könnte. Im Film gibt es dieses Kaleidoskop verschiedener Elemente, des Tons, der Stimmen, der Worte, der Stille und der Erzählstruktur. Ich konnte mir lange keine Musik vorstellen, weil für mich die Stimmen eigentlich die Musik waren — auch dieses Voice-over, das die Intimität des Paares zerstört. Im Zimmer sind sie ja immer zu zweit. Sie glauben, dass sie da im Geheimen geschützt sind. Doch schon die erste Frage aus dem Off an Julien verletzt diese Illusion. Sie lautet, wie oft ihn Esther beim Sex gebissen hat: »Glauben Sie nicht, dass sie es absichtlich getan hat?«

 

Eine Art Kreuzverhör, das die Bilder in Frage stellt?

 

Ja, Ton und Bild sollten sich ständig beißen — auf ähnliche Weise, wie Esther Julien beißt. Das Ziel war, den Verdacht, den Zweifel im Zuschauer zu wecken — was man sieht, ist vielleicht nicht das Reale. Vielleicht ist es nur die nachträgliche Rekonstruktion der Erinnerung von Julien. Der Alptraum des Films besteht darin, dass man sich nur im Kopf dieses Mannes befindet. Man ist nie in Esthers Kopf, auch nie in dem seiner Frau. Es ist immer nur er, der projiziert und sich abmüht. Weil das Script aus so vielen Elementen besteht, haben wir es zunächst grafisch festgehalten: Auf der einen Seite konnte man die Beschreibung dessen lesen, was im Bild zu sehen ist, auf der anderen Seite die Stimmen.

 

Wie in »True Detective« formen dann erst die Abweichungen die Suspense der Geschichte?

 

Die Raum-Zeit-Achse gerät völlig durcheinander — das hat mir den größten Spaß gemacht! Außerdem ist die Sprache Simenons in vieler Hinsicht veraltet — etwas, was sich über Untertitel gar nicht vermitteln lässt. Wir haben es beibehalten: nicht um den Film zu verfremden, sondern weil es ihm etwas Zeitloses hinzufügt. Er erhält etwas Tragisches, die Figuren wirken wie Helden aus einer anderen Zeit. Das ist wohl auch der Grund, warum Simenon seine Geschichten nie in der Großstadt, sondern auf dem Land angesiedelt hat.

 

Warum haben Sie sich mit Kameramann Christophe Beaucarne für ein fast quadratisches Bildformat entschieden?

 

Eine Reverenz auf den Film noir? Ja, aber das wäre noch kein ausreichender Grund. Wir haben den Screen-Test vor dem Dreh zunächst in Cinemascope gemacht und dann im Normalformat. Ich hatte das Gefühl, der Schreibstil von Simenon hat etwas sehr Quadratisches. Die Figuren sind immer ein wenig fern voneinander, das verstärkt die Einsamkeit. Bei diesem Bildformat muss man mit der Kamera auf größere Entfernung gehen, man sieht auch mehr vom Körper. Der Film sollte nichts Harmonisches an sich haben, die Kamera durfte die Körper nie liebkosen. Die Einstellungen sollten eher wie Blitze sein. Fleischteile, die man auseinander hackt — beinahe wie bei einem Verbrechen!

 


Mathieu Amalric, 49, ist einer der meistbeschäftigten Schauspieler seiner Generation. Egal ob in französischen Autorenfilmen, im amerikanischem Independentkino oder in Blockbustern wie dem Bond-Abenteuer »Ein Quantum Trost«, er fällt selbst in kleinen Rollen mit seiner enormen Präsenz und seiner Spielfreude auf. Seit einigen Jahren schreibt er auch Drehbücher und führt selber Regie. »Das blaue Zimmer« ist sein vierter Kinofilm