»Das Schmerzzentrum ist für mich entscheidend«

Regisseur Simon Solberg checkt am Kölner Schauspiel in die »Argonauten« die Glückssucher von heute

Simon Solberg mag die großen Stoffe der Weltliteratur — und er mag es, sie zeitgemäß mit Zitaten aus Kino und Pop, Journalismus oder Werbung zu pimpen. Das ist streitbar, aber nie langweilig. Seine Wurzeln hat der 35-Jährige in der HipHop-Kultur, ausgebildet wurde er auf der Folkwang-Schule in Essen. Den gleichen Job wie Schauspielhaus-Intendant Stefan Bachmann hatte er auch mal: Schauspielchef am Theater Basel. Jetzt schickt der Regisseur in die »Argonauten« die sieben Eleven des Schauspielstudio Köln auf Glückssuche.




Herr Solberg, die Liste mit Klassikern, die Sie inszeniert haben, ist beeindruckend lang: »Hamlet«, »Faust«, »Die Räuber«, »Don Carlos«, »Minna von Barnhelm«, »Romeo und Julia«, um mal ein paar zu nennen. Am Schauspiel Köln war es zuletzt Kabale und Liebe. Was reizt Sie?

 

Klassiker setzen sich mit archaischen Grundproblemen unserer Gesellschaft auseinander. Mich begeistert und beängstigt das zugleich wie aktuell sie damit sind. Zum Beispiel ist die Machtwillkür einer Führungselite, wie sie im 18. Jahrhundert von Schiller beschrieben wird, auch heute noch gang und gäbe. Auf der anderen Seite scheint uns so ein Stück durch seine gebundene Sprache weit weg, genau wie das Set-up. Das eröffnet einen spannenden Zwischenraum, in dem wir uns künstlerisch austoben.



Dazu brechen Sie Szenen auf und sampeln den klassischen Text als neue Partitur mit Referenzen auf Kino und Pop oder Schlagzeilen. Überlegen Sie sich vorher, was der Stoff an Sprachmaterial liefert? Wonach wählen Sie aus?

 

Der Grund, die Fragestellung oder das Problem, das dem Autor so wichtig gewesen ist, dass er darüber ein ganzes Stück schreibt, dieses Schmerzzentrum ist für mich der entscheidende Punkt. Wenn ich in dem etwas sehe, was uns heute genauso umtreibt, versuchen wir diese Essenz des Textes frei zu legen. Wir laden es dann mit Interpretationen, Assoziationen und kulturellen Bezügen auf, um es ins Heute zu bringen.

 

Sie sprechen von »Wir«. Erarbeiten Sie das Konzept gemeinsam mit den Schauspielern?

 

Wir entwickeln das Stück, ausgehend von einem Grundkonzept, dass wir mit dem künstlerischen Team vor dem Probenbeginn erarbeitet haben, mit allen Produktionsteilnehmern: vom Hospitanten bis zum Schauspieler. Das ist mit total wichtig. Natürlich braucht es jemanden, je näher wir der Premiere kommen, der Entscheidungen trifft. Das ist dann das Team aus Ausstattung, Dramaturgie und mir. Als Schauspieler wird es schwierig, von der Bühne aus das ganze Stück und den Theater-Apparat zu überblicken.



Die Argonauten-Sage, die Sie jetzt inszenieren, ist nicht nur in Griechenland bis heute der Renner: Der strahlende Held Iason mit seinen Gefährten, Kämpfe mit fiesen Ungeheuern und feindlichen Völkern, die mit magischen Kräften begabte schöne Medea, obendrauf eine ordentliche Portion Tragik und Gewalt, und fertig ist die Suche nach dem goldenen Vlies.

 

Ich finde, er spiegelt unsere tägliche Sinnsuche wieder. Da ziehen junge Menschen los, um einen Gegenstand, das Goldene Vlies, zu finden, der ihnen Glück bringen und die gesellschaftliche Situation in ihrer Heimat verbessern soll. Das ist eine Ur-Sehnsucht, glaub ich, das zu suchen, was die eigene Lebenssituation verbessert. Doch dieser Wunsch hat einen großen Gegenspieler: die Angst. Das kann zum Beispiel die vor Veränderung oder Statusverlust sein. Sie hält uns davon ab, gewohnte Strukturen hinter uns zu lassen, auch wenn wir in ihnen leiden und stagnieren. Von dem Versuch diese Angst zu überwinden, handelt die Reise der Argonauten.



Wie legt man denn das eigene Glück oder den Weg dahin wieder frei?

 

Das kann so Eckhart-Tolle-mäßig sein, eine spirituelle Suche in uns selbst. Oder man steigt aus, geht in die Natur oder an einen Ort, der einem körperlich und seelisch ein besseres Leben verspricht. Wie Menschen von der Südhalbkugel, die sich mit auf den Weg nach Europa mit der Vorstellung begeben, dass sich hier ihre Lebenssituation verbessern wird. Genau wie unsere Vorfahren, die Hunnen oder Goten aus dem kargen Norden ins wärmere, römisch besetzte Mitteleuropa gezogen sind, um Kriegen und Hungersnöten zu entfliehen. Völkerwanderung hat es schon immer gegeben. Sie ist der Ur-Typ der Glückssuche.



Wollen Sie das Flüchtlingsthema auf der Bühne anpacken?

 

Wir wollen untersuchen, wie unterscheidet sich das, was die sieben Schauspielschüler jeweils unter ihrem individuellen Glück, dem Vlies verstehen, mit den Vorstellungen von Flüchtlingen, Menschen vom afrikanischen Kontinent. Wie sähe die Argonautengeschichte heute aus? Wer wären die Argonauten? Was müsste das Vlies sein? Auf der Suche nach möglichen Parallelen und echten Geschichten von Flüchtlingen, werden wir wie die Argonauten auf Reisen gehen.

 

Raus aus dem Proberaum?

 

Ja! Neben dem Proben und Entwerfen von Utopien im geschützten Raum mit den Studenten auch raus und auf Vollkontakt zu gehen, finde ich, ist eine Chance. Die ist in einem Theaterbetrieb für gewöhnlich nicht gegeben.

 

Was versprechen Sie sich?

 

Im besten Fall ermöglicht ihnen unsere Reise auf die andere Halbkugel all die Emotionen einzufangen, die es braucht, um das daheim gebliebene Publikum mit den Geschichten, Hoffnungen und Sehnsüchten der »echten« Argonauten zu erreichen.



»Die Argonauten«, R: Simon Solberg, 28. (P), 30.3., 11., 18., 28.4., 9., 24.5.,
Schauspiel Köln im Depot 2, 20 Uhr