Der Drahtseilakt

Die Bundeskunsthalle überzeugt mit ­Michelangelo ohne Michelangelo

Fast könnte man beim Gang durch die Ausstellung vergessen, dass sich hinter dem Namen dieses Göttlichen nicht nur ein Ideal und allgegenwärtiger Geist, sondern eine historische Künstlerperson aus Fleisch und Blut verbirgt. Dabei stammen die ehrfürchtigen Zitate an den Wänden der Bundeskunsthalle, die diesen Eindruck entstehen lassen, von Zeitgenossen des großen Meisters — hierin liegt die Besonderheit.

 

Michelangelo Buonarroti (1475–1564) erfuhr bereits zu Lebzeiten eine im wahrsten Sinne abgöttische Verehrung, dass diese aber bis heute ungebrochen weiterlebt bezeugt die opulente Konzeption der jetzt in Bonn aufgelegten Hommage an den Maler, Bildhauer, Architekten und Dichter. Sie möchte den Künstler mithilfe eines Blickes durch den Spiegel seiner grenzenlosen Rezeptionsgeschichte aufarbeiten. Abgüsse und Kopien von einigen seiner prominentesten Werke wurden ihren mitunter ebenso prominenten Reaktionen und Weiterführungen auf kunsthistorischen Stationen wie denen des Raffael, Caravaggio, Cézanne oder Rodin gegenübergestellt. In jedem einzelnen der unzähligen Exponate von insgesamt 43 Künstlern aus sechs Jahrhunderten wird deutlich, wie mannigfach die Bilderfindungen Michelangelos waren, und wie hartnäckig sie sich in der Kunst gehalten haben.

 

Die Ausstellung erzählt parallel zur Rezeptionsgeschichte aber unweigerlich auch die eigentümliche Stilgenese des Künstlers: vom Vollender der Hochrenaissance zum ersten Botschafter jener bildschöpferischen Freiheit, die unter dem Begriff des Manierismus später einen kunsthistorischen Grabenkrieg auslöste. Im Kontext des Ausstellungsthemas kommt gerade diesem Aspekt eine spezifische Bedeutung zu: Michelangelos Drahtseilakte zwischen Perfektion und Innovation auf der Suche nach neuen Dimensionen des Mimetischen in den Künsten zeichnen in seiner Künstler-Biografie auf komprimierten Raum eine Bewegung nach, die im Grunde für die gesamte Kunst über Jahrhunderte bestimmend geblieben ist.

 

Das gänzlich irdische und menschliche Ergebnis solcher Bemühungen lässt sich am eindrücklichsten in den monumentalen »Audiences« von Thomas Struth ablesen. Wer in die großen Augen der Besucher schaut, die der Fotograf mit versteckter Kamera im Angesicht von Michelangelos berühmtem »David« portraitierte, der trifft auf das, worum es den Kuratoren eigentlich zu gehen scheint: maßloses Staunen.

 


»Der Göttliche – Hommage an ­Michelangelo«, Bundeskunsthalle, Bonn,
Friedrich-Ebert-Allee 4, Di + Mi 10–21, Do–So 10–19 Uhr, bis 25.5.