Die Komplexität des Bösen

Holocaust-Dokumentarfilm: »Der Letzte der Ungerechten« von Claude Lanzmann

Als Claude Lanzmann Mitte der 70er Jahre anfing, für »Shoah« zu recherchieren, war Benjamin Murmelstein der erste, mit dem er ausgiebig sprach. Eine Woche lang saßen die beiden mit kleinem Team in Murmelsteins Wohnung zu langen Interviewsitzungen zusammen. Doch dann scheiterte der Regisseur daran, Figur und Aussagen des ehemaligen Wiener Oberrabbiners und letzten Vor-sitzenden des Judenrates des Lagers Theresienstadt in sein Opus magnum zu integrieren — wohl gerade weil ihm Bedeutung und Einzigartigkeit des Zeugnisses bewusst waren.

 

Denn Murmelstein war der einzige Überlebende der von den Nazis eingesetzten sogenannten »Judenältesten«. Dabei galt er lange Jahre selbst als schuldig. Es gehörte zum perfiden Herrschaftssystem der Nazis, ihre Opfer selbst in die eigene Vernichtung zu verstricken. So überlebte Murmelstein zwar in Theresienstadt, doch er landete nach der Befreiung aufgrund von Kollaborationsvorwürfen für achtzehn Monate in tschechischer Haft, bevor er Ende 1946 freigesprochen wurde. Für viele andere Verfolgte blieb trotzdem ein Schatten auf seinem Namen.

 

Jetzt, fast dreißig Jahre später, hat Lanzmann dann doch einen Film über Murmelstein veröffentlicht. »Der Letzte der Ungerechten« widmet sich neben der Rehabilitation des ehemaligen Rabbiners in ausführlichen Ortsbesichtigungen auch der Frühgeschichte der Nazi-Deportationspläne, in der Theresienstadt eine besonders niederträch-tige Rolle einnimmt. Vielen der ersten Insassen wurde die Reise in das böhmische Lager als Fahrt zu einem geruhsamen Alterssitz angepriesen.

 

Neu ist das Wissen darum eben-so wenig wie die Erklärungen Murmelsteins, die er später ähnlich an anderen Orten getätigt hat. Sehr besonders dagegen ist Lanzmanns freier Umgang mit der doku-mentarischen Form, die hier — im Gegensatz zu seinen puristischen Postulaten — auch Archivbilder und eindrückliche Zeichnungen von Lager-häftlingen aus Theresien-stadt umfasst. Und Murmelstein — wenn man ihm denn glauben mag — hat nicht nur ein hervorragendes Gedächtnis, sondern auch das erzählerische Talent, die dramatischen Umstände der Judenräte an-schaulich zu machen. Lanzmanns Eitelkeit ist aber auch in diesem Film nicht zu übersehen, wenn er sich am Ende beim Spaziergang mit seinem Protagonisten selbst in Szene setzt. Aber man muss den Filmemacher nicht mögen, um seine Arbeit hoch zu schätzen.