Atemberaubend schön: »The Assassin« von Hou Hsiao-hsien

Sturm im Champagnerglas

Skandale, Kontroversen und Verschwörungstheorien: Das 68. Filmfestival von Cannes bot einen unebenen Wettbewerb und viele überhitzte Journalistengemüter

Man pferche 4000 Journalisten zwölf Tage auf engem Raum zusammen, entziehe ihnen Schlaf und nötige sie zur Dauerkreativität – ein sicheres Rezept für aufgebauschte Skandale, Kontroversen und Verschwörungstheorien. Das gilt für jedes bedeutende Filmfestival, aber Cannes setzt auch hier die Maßstäbe. Dieses Jahr entzündete sich der »große« Skandal des Festivals allerdings nicht an den präsentierten Filmen oder deren Machern - sondern an Schuhabsätzen. Genauer: an High Heels. Nachdem bei der Premiere von Todd Haynes »Carol« eine Gruppe von Frauen in ihren 50ern vom roten Teppich verscheucht wurden, weil sie flache Schuhe trugen, dominierte das Thema tagelang die Pressemeldungen vom Festival. Offiziell wurde dementiert, es gebe so etwas wie einen High-Heels-Zwang für Frauen bei den Galavorführungen, aber jeder Festivalgast wusste plötzlich ähnliche Geschichten zu erzählen. Die Schuhpolitik auf dem roten Teppich lockerte sich aufgrund der massiven Kritik in den folgenden Tagen.

Dieser Sturm im Champagnerglas bedeutet nicht, dass auf der Leinwand nicht auch Aufreger geboten wurden, die teilweise zu herrlichen Verschwörungstheorien Anlass gaben. Zu Beginn des Festivals sorgte Gus Van Sants West-trifft-Ost-Schmonzette »Sea of Trees« bei der Pressepremiere für leidenschaftliche Buhrufe. Völlig zu recht: Edward Said hat zwar den Begriff »Orientalismus« für den westlichen Blick auf den Nahen Osten geprägt, aber hier passt er auch für den Fernen Osten, zumindest in einer postmodernen Variation. Ein amerikanischer Mathematiker reist nach Japan, um sich im berühmten Selbstmordwald am Fuße des Fuji das Leben zu nehmen. Dort trifft er auf einen geistergläubigen Japaner, der nach seinem Suizidversuch orientierungslos durch den Wald irrt. Die plötzliche Aufgabe, das Leben des Fremden zu retten, bringt den Amerikaner von seinem Vorhaben ab. Westlicher Rationalismus trifft auf fernöstlichen Mystizismus – dass am Ende letzterer recht bekommt, macht die Klischees nicht besser. Die seifige Musik und tränenrührige Rückblenden tun ihr übriges. Beim beliebten Kritikerspiegel des britischen Branchenblatts Screen erreichte »Sea of Trees« den rekordverdächtig niedrigen Durchschnittswert von 0,6 Punkten. Die schönste Verschwörungstheorie zu Van Sants Film: Er sei extra ausgewählt worden, um einen Skandal zu provozieren, nach dem Motto: Besser schlechte Publicity als gar keine.

Wenig Begeisterung lösten auch die Beiträge von Regisseurinnen aus: Emmanuelle Bercots arg staatstragender Eröffnungsfilm »La tête haute«, Maïwenns ermüdende Amour fou »Mon roi« und Valerie Donzellis Inzest-Märchen »Marguerite et Julien«, das wirkte wie eine misslungene französische Version eines Wes-Anderson-Films. In ihrem Cannes-Blog fragte sich FAZ-Filmredakteurin Verena Lueken, ob das vielleicht Absicht sei: Lädt Cannes nach der vielen Kritik am Fehlen von Frauen im Wettbewerb jetzt absichtlich schlechte Filme von Regisseurinnen ein, um Quotendiskussionen zu ersticken? Dass in den Nebensektionen dieses Jahr – anders als im letzten – auch nicht unbedingt zwingenden Filme von Regisseurinnen zu finden waren, widerlegt diese abenteuerliche Vermutung. Man kann das Cannes-Jahr 2015 sogar als Erfolg für die Gleichberechtigung verstehen, wenn gilt, was ich letztes Jahr bereits an dieser Stelle geschrieben habe: »Kein Wettbewerb eines Festivals und sei es noch so renommiert, besteht nur aus Meisterwerken. Gleichberechtigung wird es erst dann geben, wenn weniger gelungene Werke von Frauen genauso selbstverständlich in eine Auswahl aufgenommen werden wie die von Männern.«

Der Wettbewerbsfilm, von dem man am ehesten vermuten konnte, dass er (auch) aufgrund seines Skandalpotentials ausgewählt wurde, wurde erstaunlicherweise weitgehend diskussionsfrei durchgewunken und am Ende von der Jury mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet, dem zweitwichtigsten Preis des Festivals. Die Rede ist von »Saul fia« des 38-jährigen Ungarn László Nemes. Der Debütfilm erzählt von einem Auschwitz-Insassen, der als Mitglied eines Sonderkommandos dafür zuständig ist, die vergasten Leichen seiner Mithäftlinge zu entsorgen und ihre Habseligkeiten nach Wertsachen zu durchsuchen. Als er unter den Toten seinen Sohn zu entdecken glaubt, setzt er alles daran, ihm ein halbwegs würdiges Begräbnis zu geben.

Von der ersten Einstellung an bereitete mir der Film Unbehagen, und zwar gerade weil er alles bietet, was einen Cineasten glücklich macht: »Saul fia« wurde auf 35mm im klassischen Normalformat gedreht und beginnt mit einer virtuos gefilmten Plansequenz. Die Bilder von Kameramann Mátyás Erdély haben eine extrem sinnliche Qualität durch ihre geringe Tiefenschärfe und die satten Braun- und Grüntöne. Die Perspektive, die die Kamera einnimmt ist ungewöhnlich. Meist schaut sie dem Protagonisten mehr oder minder frontal ins Gesicht, seltener sitzt sie ihm im Nacken. Eine Subjektive im konventionellen Sinne ist das nicht. Der Kopf von Hauptdarsteller Géza Röhrig füllt meist den Großteil des Bildes aus, die Umgebung bleibt weitgehend verschwommen. Selten gibt es Gegenschüsse, die zeigen, was er sieht. Als Zuschauer bleibt man in einer ganz engen Welt gefangen, die sich zunächst kaum entschlüsseln lässt. Man ist eher im Kopf des Protagonisten, als dass man mit seinen Augen sieht.

Das zeigt, dass sich Regisseur Nemes viele Gedanken über die Möglich- bzw. Unmöglichkeit der filmischen Repräsentation des Holocausts gemacht hat. Leichenberge sind nur schemenhaft am Rande wahrzunehmen, »Saul fia« erhebt nicht den Anspruch »die Shoah« darzustellen, sondern wirft dem Zuschauer ein Fragment hin – zumindest in der ersten halben Stunde. So langsam schält sich dann doch ein Plot heraus, der den Film gewöhnlichen Erzählungen annähert. Und damit auch problematischerweise einen »Sinn« verleiht.

Was »Saul fia« meiner Meinung nach aber pervers macht, ist seine fehlende Demut dem Thema gegenüber. Nemes ist ein virtuoser und innovativer Kinofilm gelungen, der aber in seiner Selbstverliebtheit höchst irritierend ist.

Mit der Goldenen Palme zeichnete die Jury rund um Joel und Ethan Coen am Ende Jacques Audiards »Dheepan« aus. Eine Überraschung. Seine Geschichte eines Tamilen, der vor dem Bürgerkrieg im eigenen Land nach Frankreich flieht und dort ein ganz anderes Schlachtfeld vorfindet, ist trotz seiner sozialrealistischen Fassade arg spekulativ geraten. Vor allem spielt der Film mit den Ängsten, dass sich der Westen über Asylbewerber aus Kriegsgebieten die Gewalt in die eigenen Länder importiert.

Die beiden Kritikerlieblinge »Carol« von Todd Haynes und »The Assassin« von Hou Hsiao-Hsien mussten sich mit Nebenpreisen zufriedengeben. Die wie immer großartige Rooney Mara bekam den Preis für die beste Darstellerin für ihre Rolle in »Carol«, den sie sich allerdings mit Emmanuelle Bercot teilen musste. Der Taiwanese Hou Hsiao-Hsien erhielt den Regiepreis für den berauschend schönsten Film des gesamten Festivals. »The Assassin« erzählt die Geschichte einer jungen Martial-Arts-Kämpferin, die im China des 9. Jahrhunderts wenig Lust hat, die Tötungsaufträge ihrer Meisterin bedingungslos zu erfüllen. Hous erster Film seit acht Jahren ist der vielleicht langsamste Actionfilm der Kinogeschichte, in dem aber jede Einstellung ein Kunstwerk für sich ist. Das hätte den Hauptpreis verdient gehabt.

 


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