Abgeschlafft?

 

Die Krise der Filmkritik ist eine Krise der Verlage und des Kinos. Gedanken zu Dominik Grafs Hommage an Michael Althen Was heißt hier Ende?

Wie aus Goldenen Zeiten wirkt die Anekdote, dabei geschah sie vor nicht einmal 15 Jahren. Hans Werner Kilz, damals Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, passte seinen Filmredakteur Michael Althen am Flughafen ab, um ihm ein Angebot zu machen, das er nicht ablehnen kann — so hoffte der mächtige Medienmann zumindest. Eine Gehaltserhöhung bot er, weitgehende Freiheit beim Arbeitsort und obendrauf als Geschenk einen Oldtimer: einen Citroen DS, auch genannt »Die Göttliche«, das Lieblingsauto aller frankophilen Filmkritiker. Das alles, wenn Althen nicht das Flugzeug nach Berlin besteigen und nicht bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung anfangen würde. Er lehnte ab.

 

Die Geschichte erzählt ein ehemaliger Kollege in Dominik Grafs »Was heißt hier Ende?«, seinem Dokumentarfilm über den 2011 verstorbenen Althen (Kritik siehe Seite 56). Dass ein zweistündiger Film über einen Filmkritiker in die Kinos kommt, ist ungewöhnlich. Es bestätigt die ungemeine Beliebtheit, die die Texte des Münchners bei Lesern und auch Filmemachern hatten und haben. Seit seinem Tod wird jährlich auch ein Michael-Althen-Preis für Kritik verliehen, und eine umfangreiche Webseite macht seine Texte zugänglich.

 

Es überrascht wenig, dass in solch einer posthumen Hommage über den aktuellen Zustand der Filmkritik keine guten Worte verloren werden. Olaf Möller, StadtRevue-Autor und -Kolumnist, einer der Interviewten in »Was heißt hier Ende?«, beklagt etwa, dass es keine öffentlichkeitswirksamen Flügelkämpfe mehr gebe, denn: »Es glaubt ja keiner mehr etwas.« Regisseur Romuald Karmakar findet die heutigen Filmjournalisten abgeschlafft, gemütlich und ohne Feuer. Von der Kritik erwarte er gar nichts mehr, sagt er lakonisch. Der mittlerweile vom Filmjournalismus ins Kuratorenfach gewechselte Österreicher Christoph Huber beklagt die Gleichförmigkeit der Medienerzeugnisse, die im Angesicht der Krise allen Entdeckergeist aufgegeben hätten.

 

So weit, so bekannt kulturpessimistisch. Eine differenziertere Sichtweise zumindest auf die Zeitungskrise liefert im Film Claudius Seidl, Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Die Zeitungskrise sei ja keine Leserkrise, gibt Seidl zu bedenken, sondern eine Krise des Geschäftsmodells der Anzeigenfinanzierung. In der Tat, nicht alle Zeitungen in Deutschland verlieren Käufer, und zählt man die Online-Leserschaft dazu, kann von einem Schwund erst recht nicht die Rede sein.

 

Die aktuelle Situation ist paradiesisch für Leser mit Entdeckergeist: Wo früher im besten Fall eine lokale und eine überregionale Zeitung morgens in der Post lagen, mit Filmseiten am Donnerstag, sind heute zu jedem halbwegs populären Film Dutzende Kritiken auf deutschen Internetseiten nur einen Klick entfernt. Nimmt man englischsprachige Websites dazu werden es leicht mehr als hundert. Alles ist im Überfluss vorhanden: amateurhafte Texte und verkappte PR, aber auch inhaltlich herausragende Beiträge. Auf Blogs werden stündlich teilweise extrem kenntnisreiche Einträge auch zu abseitigen Filmephänomenen und Filmfestivals veröffentlicht. Spannende neue Felder wie audiovisuelle Filmkritiken auf Youtube und Big-Data-Analysen von Filmen könnten das Feld revolutionieren. Die vielfach beklagte Zersplitterung der öffentlichen Sphäre, macht auch vor der Filmkritik nicht Halt. Das ist einer der Gründe für fehlende Flügelkämpfe und große Kontroversen. Der Filmkritik geht es da nicht anders als dem Rest: wie die Zeiten, so die Kritik. Das ist zunächst weder gut noch schlecht.

 

Ähnliches gilt für den Gegenstand der Filmkritik selbst: Die Anzahl an Filmen, die in die Kinos kommen, hat sich in den vergangenen fünfzehn Jahren fast verdoppelt, in Deutschland sind es mittlerweile 600 im Jahr. Jenseits des Superhelden-Blockbuster-Mainstreams wird es immer schwieriger die Aufmerksamkeit zu bündeln. Zumal das Kino insgesamt nicht mehr für sich beanspruchen kann, noch trendsetzendes »Leitmedium« zu sein wie noch im vergangenen Jahrhundert. Die Zeiten von Bergman, Antonioni und Fassbinder, als neue Werke von Autorenfilmern noch gesellschaftlich diskutiert wurden, sind vorbei. Der Bedeutungsverlust der Filmkritik ist auch dem Bedeutungsverlust des Kinos geschuldet. Eine Entwicklung, die die beste Kritik nicht aufhalten kann. 

 

Und mit der Krise der gedruckten Zeitung und dem zunehmenden Rückzug des öffentlich-rechtlichen Rundfunks aus der gehaltvolleren Kulturberichterstattung ist dem Beruf des Kritikers auch seine ökonomische Grundlage abhanden gekommen. Der Deutsche Verband der Filmkritik hat mittlerweile seinen Anspruch aufgegeben, dass die Mitglieder noch einen Großteil ihrer Einnahmen mit Filmjournalismus verdienen müssen.

 

Die schlecht honorierten Filmkritiken in renommierten Zeitungen werden damit zunehmend zu einer Werbung in eigener Sache. Sie sind für die Autoren eine Art Visitenkarte. Das übertragene Renomée eröffnet im besten Fall die Tür zu lukrativeren Aufträgen: Moderationsjobs, Vorträge, Unistellen oder Arbeiten für subventionierte Kultureinrichtungen. Auf der anderen Seite steht das Heer an »Amateuren« im ursprünglichen Wortsinn: Liebhabern, die aus Leidenschaft für den Film für kein oder sehr wenig Geld Inhalte produzieren. Honoriert werden sie mit der uneingeschränkten Selbstverwirklichung: Kein Verleger oder Redakteur redet ihnen rein. Was dabei auf beiden Seiten, bei den Profis und Amateuren, verloren zu gehen droht, ist das, was gerade die Texte von Michael Althen auszeichnete: Dass sie mit großer Leidenschaft für den Film geschrieben waren, aber zugleich den Willen und das Können zeigten, ein breites Publikum mitzunehmen auf die Reise in die wunderbare Welt des Kinos.