Das Weiße Album des Dancefloors

Arthur Russell war ein fasznierener Grenzgänger zwischen Avantgarde und Disco

Ende der 70er Jahre will ein seltsamer, weißer Junge aus Iowa mit Akne-Narben und Cello die Tanzmusik revolutionieren. Nichts weniger als das »Weiße Album« der Disco-Bewegung will er schaffen. Arthur Russell scheitert grandios. Über einen Kreis von Eingeweihten hinaus werden seine Arbeiten nicht weiter bekannt. Er schafft aber ein fantastisches Werk, das die Grenzen zwischen Pop und Avantgarde zerfließen lässt. Erst 2004, mehr als zehn Jahre nach seinem frühen Tod, werden er und sein Werk -wiederentdeckt und international gefeiert. Seither blüht sein musi-kalisches Erbe. Nun bringen in Köln vierzig Jahre nach der Uraufführung alte (und neue) Weggefährten sein Opus Magnum wieder auf die Bühne.

 

Er wird als Charles Arthur Russell 1951 in Oskaloosa geboren, einer Kleinstadt in Iowa. Seine Kindheit ist von dem entschleunigten Leben des Prärie- und Agrarstaates im Mittleren Westen geprägt. Er ist ein schüchternes Kind, das sich seiner starken Akne schämt. Der Vater, ein ehemaliger Marineoffizier, führt zu Hause ein eher strenges Regime, die Mutter bringt dem kränklichen Jungen das Cello-Spiel bei. Er übt jeden Tag und streunt durch die umliegenden Felder. Das Jahr 1966 geht auch an dem Teenager in der Provinz nicht spurlos vorüber. Er leiht sich aus der Stadtbibliothek das Buch »The Psychedelic Experience« von Timothy Leary aus und beginnt zu kiffen. Irgendwo da draußen, jenseits der großen Maisfelder, muss die große Freiheit sein. Bald erwischt der Vater ihn auf dem Dachboden beim Haschrauchen, die Tracht Prügel veranlasst den mittlerweile selbstbewusst gewordenen Russell nach San Francisco abzuhauen. Ge--nauer: nach Haight-Ashbury, den Stadtteil, den Hunter S. Thompson 1967 in einem Artikel für die New York Times »Hashbury« tauft.

 

Der drogenumwölkte Summer of Love beginnt am 14. Januar 1967 im Golden Gate Park beim legendären »Human Be-In«: Allen Ginsberg deklamiert seine Howls, Grateful Dead spielen das Publikum in den Wahnsinn und der LSD-Guru Leary gibt seine berühmte Losung aus: »Turn on, Tune in and Drop out«. 

 

Als Russell in die Stadt kommt, ist Haight-Ashbury also die Hochburg der Hippie-Bewegung. Er quartiert sich in eine Kommune ein und wird Schüler von Pemchekov Warwick, einem westlichen buddhistischen Lehrer. In der Kommune lernt er 1970 Ginsberg kennen, ein Jahr später nehmen sie gemeinsam Mantras auf. Er treibt seine musikalische Bildung diszipliniert voran, studiert Komposition am Musikkonservatorium und bei dem berühmten bengalischen Lehrer Ali Akbar Khan klassische indische Musik.

 

Beeinflusst vom Folk der Beatnik-Szene, vom Minimalisten Terry Riley und indischer Musik geht Russell im Frühjahr 1973 nach New York, um sich dort eine Existenz als Musiker aufzubauen. Er freundet sich mit dem gleichaltrigen Komponisten Rhys Chatham an. Chatham organisiert zu dieser Zeit Konzerte in einem Kunstraum in Manhattan. Auf Vermittlung von Chatham wird Russell zum neuen Musikdirektor des Off-Space ernannt: In der Saison 1974/75 engagiert er Bands wie die Talking Heads, Nova’billy (Henry Flynt) und die Modern Lovers. Das Programm aus minimalistischem Artrock und Protopunk legt den Grundstein für alles Weitere: Ende des Jahrzehnts gilt The Kitchen als die Brutstätte der No Wave- und der Downtown-Szene. Russell arbeitet zu dieser Zeit an einem 48-stündigen Orchesterstück, ins-piriert von einer verwaschenen Natur-Photographie seines Zen-Lehrers Yuko Nonomura. Das Stück verarbeitet die Musik von Charles Ives, Aaron Copland und Lou Har-rison, Komponisten, die die Weiten des Mittleren Westens in ihre Musik aufgenommen haben. Daneben finden sich die repetitiven Muster urbaner Minimal Music, Anklänge von melodramatischer Filmmusik und flirrendem Großstadt-Soul.

 

Hört man heute die wenigen aufgenommenen Teile der »Instrumen-tals« offenbart sich eine fantastische Vorwegnahme des Americana-infizierten Postrocks der 90er Jahre, eine singuläre Fusion von leichtfüßigem Pop und Avantgardetechniken. Zu den bei den Aufnahmen beteiligten Musikern gehören viele der Größen der Downtown-Szene (und die in Köln mit von
der Partie sein werden): neben Chatham, Peter Gordon, Ernie Brooks (von den Modern Lovers) und Peter Zummo.

 

Mitte der 70er Jahre taucht Russell tief in die Disco-Szene in SoHo ein, verkehrt in David Mancusos Club The Loft und in Nicky Sianos The Gallery. Für ihn verwischen die Grenzen zwischen buddhistischen Mantren, Minimal-Music-Ostinati und den Beats der Discomusik. Mit Siano produziert er 1977 unter dem Alias Dinosaur (u.a. mit David Byrne) das grandiose Disco-Stück »Kiss me again«. Im schwulen Underground entwickelt sich zu dieser Zeit in Clubs wie dem Paradise Garage die House-Szene, Russell liefert 1980 mit dem minimalistischen Off-Disco-Sound seines Projekts Loose Joints Blaupausen. Seine Stücke werden von Larry Levan, Walter Gibbons und François Kevorkian remixt.

 

Doch der große kommerzielle Erfolg, den sich Russell erhofft, bleibt aus. Nach seinem Disco-Exkurs und dem daraus entstandenen Proto-Leftfield-House arbeitet Russell in den 80ern weiter an seinen Cello-Dub-Vignetten. Kurz nach dem er 1986 sein Album »World of Echo« veröffentlicht — eine Sammlung ozeanischer Pop-Ambient-Stücke und eines der schönsten Alben jener Jahre — wird er HIV-positiv getestet. Er stirbt 1992. Arthur Russell hinterlässt eine einzigartige, durchscheinende Musik, die nie sentimental, dafür aber von unglaublich berührender Schönheit ist.