Wo ist die Revolution geblieben? Bob Dylan auf dem Cover von »Highway 61 Revisited«

Ein rollender Stein setzt kein Moos an

Über die Produktionsgeschichte eines epochemachenden Albums

und das Ausbleiben der Revolution. 50 Jahre »Highway 61 Revisited«

Bob Dylan ist ein Mythos. Es heißt, er habe den Song zu einer Literaturgattung erhoben, den Beatles das Kiffen beigebracht, sei Sprachrohr einer Generation und der vermutlich einflussreichste Musiker des 20. Jahrhunderts — kaum ein Künstler wird bis heute derart kultisch verehrt. Und das obwohl Dylans Niedergang bereits ein halbes Jahrhundert währt: Er dehnt sich bis zur Unkenntlichkeit wie ein einziger lang gezogener Vokal in breitestem Minnesota-Dialekt.

Der Dylan-Kult hat im Kern mit seiner Vereinnahmung durch die US-amerikanische Linke zu tun. In den frühen 1960ern wurde Dylan von der Linken als Nachfolger von Woody Guthrie und Pete Seeger gehandelt. Diese erfanden den Folk als Sprachrohr der Arbeiterklasse, und lieferten so den Soundtrack und die moralische Legitimation für die amerikanische Emanzipationsbewegung. Der junge Dylan faszinierte im Zuge des Folkrevivals durch seine Fähigkeit, seiner Stimme und seinen Texten eine Tiefe zu geben, die weit über die mögliche Lebenserfahrung eines Menschen in seinen frühen Zwanzigern hinaus wies. Wenn Dylan sang, hörte man in seiner Stimme die Erfahrung und Abgeklärtheit mehrerer Generationen schwer geprüfter Landstreicher und Tagelöhner. Wie Mark Polizzotti in seiner pünktlich zum fünfzigjährigen Jubiläum von »Highway 61 Revisited« auf Deutsch erschienenen Produktionsgeschichte herausarbeitet, ist Dylans Frühzeit von »Schuldzuweiser-Songs« geprägt. Diese arbeiten sich in der Tradition der Protest- und Gewerkschaftslieder der 1930er und 40er an Kriegsindustriellen und anderen Kapitalisten ab. Dylan hat denn auch in seiner lesenswerten Autobiographie »Chronicles Vol. 1« seine Anfangszeit als eine Art Über-Identifikation mit Woody Guthrie charakterisiert.

 

Dylan distanzierte sich von dieser »alten« Stimme bald; er wollte nicht Sprachrohr einer Bewegung sein. Was sich bereits auf dem Vorgängeralbum abzeichnete, bestätigte sich auf »Highway 61 Revisited«: Dylan vollzog die Hinwendung zum elektrischen Sound und wendete sich gleichzeitig vom politischen Song ab. Seine Texte, so weist Polizzotti in minutiösen Textanalysen nach, wurden von nun an von »schwebenden Versen« und rätselhaften Anklagen dominiert, die für eine richtungslose Linke anschlussfähig war. Dylan gab in seinen Texten ab Mitte der 1960er nicht mehr den altklug-juvenilen Revoluzzer sondern einen zynisch-verrätselten Robbespierre. Allerdings hatte keine Revolution stattgefunden, die es zu verteidigen galt. Er verschleierte vielmehr mit seiner nichtadressierten Anklage das Ausbleiben derselben.

 

Die Spekulationen seiner Exegeten, wem in den unzähligen Anklagen Dylans der Prozess gemacht wird, sind Legion. Dabei liegt doch eigentlich nahe, dass mit dem Objekt der dylanesken Anklage schlechthin — der immer wieder auftauchenden, mit Spott überschütteten Figur Mr. Jones — die Fans selbst gemeint sind: Das »Du« in Dylans Songs adressiert uns, seine Zuhörer. Dylan wird von einer bürgerlichen Linken verklärt, die sich uneingestanden mit diesem »Du« identifiziert, sich einer sarkastisch-sentimentalen Selbstkritik hingibt und in Dylans Texten die perfekten Projektionsflächen hierfür findet. Diese masochistische Verehrung hält den Mythos Dylan bis heute am Leben.

 

Derartige Lesarten finden sich bei Polizzotti nicht. Die Stärken seiner Untersuchung beschränken sich vor allem auf das Anekdotische und das Wissen um Produktionsdetails. So liefert er immerhin eine Erklärung für die musikalische Entwicklung Dylans ab Mitte der 1960er. Und auch dafür, warum Dylan »nie ein besseres Album machen würde« und dies — so steht es zumindest auf dem Buchrücken — auch selbst wusste. Tom Wilson, Dylans Produzent seit »The Times They Are a-Changin’«, wurde nach der Aufnahme des ersten Stückes für »Highway«, »Like A Rolling Stone«, abgesetzt und durch Bob Johnston ersetzt, der dem Rest der Aufnahmen und den Nachfolgealben einen Nashville-Touch gab. Wilson, der die elektrische Wende forcierte und gerade einen der berühmtesten Songs Dylans aufgenommen hatte, war Harvard-Absolvent und ein fantastischer Produzent von ausgesuchter Finesse. Er hatte Ende der 1950er die ersten Alben von Sun Ra und Cecil Taylor auf einem eigens hierfür gegründeten Label herausgebracht und produzierte später die Debüts von Soft Machine, Velvet Underground und den Mothers of Invention. Welch irrsinnige Fehlentscheidung ihn abzuziehen! In dieser Entscheidung liegt der Grund, warum Dylan in der Folgezeit immer weiter in Richtung reaktionärer Country-Musik abdriftete. Mit Wilsons Rauswurf hatte Dylan auch musikalisch seinen Zenit überschritten.

 

Der französische Semiotiker Roland Barthes hat Ende der 1950er auf die Frage, ob es linke Mythen gebe, geantwortet: »Gewiss, in dem Grade, in dem die Linke nicht die Revolution ist.« Nachdem sich Dylan von den Kapitalisten ab- und den Linken Spießern zugewendet hatte, um diesen den Prozess zu machen, entstand sein Mythos. Dass es zu dieser Mythologisierung kam (Dylan tut bis heute alles dafür, als Enigma zu erscheinen), zeugt vom Ausbleiben einer linken Revolution und von der sarkastisch-reaktionären Wende eines ihrer Hoffnungsträger. Vielleicht sollte man Bob Dylan mit Barthes berühmtem Theorem über den Tod des Autors begegnen: Dylan zum Verschwinden zu bringen, kommt einer Verheißung gleich nach den vielen Jahren der Mythenbildung. Nur muss man sich davor hüten, die entstehende Leerstelle wieder mit einem Mythos füllen zu wollen. Machen wir Dylan und seinen Fans den Prozess.
 


Buch: Polizzotti, Mark: Highway 61 Revisited. Bob Dylans Road Album.
Aus dem Amerikanischen von Christine Heikamp. 176 Seiten, Edition Tiamat,
Vlg. Klaus Bittermann. 18 €.