Ein neues Goldenes Zeitalter?

Der Surrealismus ist zurück: Gedanken aus Anlass des 29. Fantasy Filmfests

Wie kommt es, dass einige der interessantesten Filme dieses Kinojahres Meisterwerke des Surrealismus’ sind? Die wahrscheinlich einflussreichste Kunstströmung des 20. Jahrhunderts schien doch längst passé. Veronika Franz’ und Severin Fialas Film »Ich seh, ich seh« zum Beispiel ist von Georges Franju im gleichen Maße beseelt wie von Lucio Fulci. Der eine wie der andere ein Genie des Nachkriegs-Surrealismus — wenn auch in verschiedenen Registern. Ulrich Seidl, Produzent des Films, hat sich mit seinem eigenen bislang letzten Meisterstück »Im Keller« wieder einmal als würdiger Nachfolger von Surrealismus-Apologeten wie Humphrey Jennings und Jacques-Bernard Brunius erwiesen. Die erfreuten sich ebenfalls an den Abweichungen und Eigenwilligkeiten von all dem, was als normal gilt. Der Alltag, ein mal dunkles, mal lichtes Zauberland.

 

Schmuckstück des diesjährigen Fantasy Filmfests ist Quentin Dupieuxs Mediensatire »Reality«. Der Franzose demonstriert damit, dass er möglicherweise der einzig wahre Nachfolger von Luis Buñuel ist. Dem göttlichen Ketzer hätte es gefallen, wie in »Reality« Kameramann und Möchtegern-Regisseur Jason in ein Kino geht, wo exakt der Film läuft, den er selbst drehen will. Daraufhin klärt Jason das Publikum lautstark darüber auf, dass es diesen Film in Wirklichkeit noch gar nicht gibt — was ihm die Zuschauer verständlicherweise nicht so recht glauben wollen.

 

Das sind nur einige Beispiele von Filmen, die hier in den vergangenen Monaten zu sehen waren oder noch zu sehen sein werden. Es gibt unzählige andere solcher Filme, realisiert weltweit für den regulären Kinobetrieb wie auch für Galerien und Museen wie auch für niemand bestimmten, außer Verwandten und zwei, drei Freunden. Das zeigt das Beispiel des unvergleichlichen Aachener Animationsschöpfers Bruno Sokrow, dessen neuestes Werk im Juli Pre-miere feierte. Wer Populärkultur ernst nimmt, hat es kommen sehen: »Jackass« und »Borat« waren schon surreale Konzepte reinsten Schwarzbrennerwesens. Die Wirklichkeit — mit Scripted-Reality-TV als derem bösen Zwilling — wird hier wie dort durch ein Störelement erfahrbar gemacht und als irritierbar und somit als veränderbar vorgeführt.

 

Ein Problem ist sicherlich, dass heute »surreal« oft als Pseudonym für »bizarr« oder »versponnen« verwendet wird — was wenig gemein hat mit dem brutalen Sinn für die Realität der Surrealisten der ersten Generation. Diese Entwicklung lässt sich darauf zurückführen, dass in den vergangenen Jahrzehnten eher dekorative, dem Bürgertum kommode Strömungen wie der Magische Realismus das Bild des Surrealismus’ bestimmt haben. Dazu passte, dass man etwa ab den 60er Jahren begann, den Surrealismus eher mit Osteuropa sowie Mittel- und Südamerika zu identifizieren: Die »freie Welt« hatte die Popkultur, und die »unfreie« musste sich per Allegorie artiku-lieren. Weshalb das Thema 1989 durch war: Die »freie Welt«, und damit der Pop, hatte gesiegt, -während der Surrealismus auf 

den Abfallhaufen der Geschichte wanderte. 

 

Wenn nun der Surrealismus mit seinem brachialen, antibürgerlichen Furor wiederkommt, dann hat das damit zu tun, dass unsere Tage jenen vor rund hundert Jahren ähneln. Damals adaptierten André Breton und andere Dada für eine Welt nach dem Massenmorden des Ersten Weltkrieges, für eine Ära ökonomischer Dauerkrisen und politischer Extremismen. So schufen sie eine Kunst, die ihre Energie aus den gesellschaftlichen Widersprüchen saugte. Sicher, das sieht heute anders aus und fühlt sich anders an, doch die grundsätzlichen Konflikte haben sich nicht verändert — vielleicht eher noch verschärft in einer Zeit, die so etwas wie Solidarität erst wieder erlernen muss. 

 

Was bei all dem nicht vergessen werden darf: Der Surrealismus ist mindestens so tief im Dokumentarischen wie im Fiktionalen verwurzelt. Er ist fasziniert von all dem Ungeahnten, Verblüffenden, Fabelhaftem, das sich findet, wenn man nur konzentriert genug in die Wirklichkeit hineinstarrt. Wenn man sezierend ihre Haut durchschneidet und endlich sieht, was darunter vor sich geht. Man sollte sich an der Zauberkraft dessen, was da pocht und lebt, staunenslustig erfreuen, statt darüber hochmütig zu spotten und so die Norm und deren Definierer zu bestätigen. Denn auf seine eigene Weise ist der Surrealismus reinherzig und politisch ungemein praktisch anwendbar. Das gilt es wiederzuentdecken und erneut wertzuschätzen.