»Hier sitzen Obdachloser und Bürgermeister beieinander«

Umsonst und draußen: Kurator Stefan Drößler über die 31. Internationalen Stummfilmtage Bonn, die Vorteile des Digitalen und wetterfeste Zuschauer

Herr Drößler, worin liegt heute noch die Faszination des Stummfilms?

 

Stummfilmregisseure haben es geschafft, sich rein visuell auszudrücken. Zum Ende der 20er Jahre war das jedenfalls die hohe Kunst. Sie brauchten die Zwischentitel nicht mehr unbedingt, weil sie mit Bildern ausgedrückt haben, was sie sagen wollten. Der Tonfilm war zunächst in gewisser Weise ein Rückschritt. Der Film wurde wieder sehr stark zu abgefilmtem Theater, in dem viel über Dialoge erklärt wurde. Das lag auch daran, dass die Kamera erst mal nicht mehr so frei bewegt werden konnte. Sie musste abgeschirmt werden, damit ihre Geräusche nicht störten. Im gegenwärtigen Kino gibt es auch viele Filme, die mehr wie bebilderte Hörspiele funktionieren, bei denen die Bildsprache gar nicht richtig zum Tragen kommt.

 


Sie spielen die Filme auch digital von der Festplatte ab. Ist es nicht wichtig, dass man bei einem Stummfilmfestival das Bewusstsein für das analoge Material erhält? Es spricht vieles dafür, dass ich bei einer Restaurierung mit digitalen Mitteln der Bildqualität bei der Erstaufführung des Films wesentlich näher komme als durch analoge Umkopierungen, bei denen es immer Verluste und Veränderungen in der Bildschärfe und Farbe gibt. Stummfilme, die per Hand eingefärbt wurden, lassen sich zum Beispiel auf Farbfilm überhaupt nicht befriedigend umkopieren. Wenn wir heute Filme projizieren, sind wesentliche Faktoren nicht mehr authentisch: Die Projektoren haben andere Lichtquellen mit anderen Farbtemperaturen und Lichtstärken. Aus feuerpolizeilichen Gründen kommt kein Nitrofilmmaterial mehr zum Einsatz, daher können nur noch Filmkopien auf sogenanntem Sicherheitsfilmmaterial gezeigt werden, das ein anderes Kontrastverhalten aufweist. Ich weiß nicht, warum gerade am Filmmaterial die Authentizität festgemacht werden sollte. Bei den Stummfilmtagen führen wir aber einen Großteil der Filme noch -analog vor, weil von unbekannteren Titeln keine guten digitalen Restaurierungen vorliegen und vermutlich auch in absehbarer
Zeit nicht vorliegen werden.

 


Sie sind Leiter des Münchner Filmmuseums. Ist Filmgeschichte nicht auch Technikgeschichte, die man lebendig halten sollte?

 

Es gibt Leute, die sagen, das Rattern der Filmprojektoren sei sehr wichtig. Das habe ich aber damals im Kino auch nicht gehört, weil es abgeschirmt wurde. Wenn man es gehört hat, stimmte etwas nicht. Das Analoge wird fast immer nur über die Fehler definiert, die es produziert, wie Bildsprünge, Laufschrammen oder der wackelnde Bildstand. Mein Ziel ist es nicht nachzustellen, wie ein historischer Film jahrzehntelang unter schlechten technischen Bedingungen vorgeführt wurde. Ich orientiere mich daran, wie er damals bei der Premiere ausgesehen hat. Ideal wäre es, wenn ich das analoge Originalnegativ von damals hätte, das so gut erhalten ist, dass ich eine analoge Kopie auf historischem Material ziehen könnte, um sie auf einer authentischen analogen Projek-tionsanlage in einem Kino der 1920er Jahre vorzuführen. Aber dies ist ein unerreichbarer Wunschtraum.

 


Wie erklären Sie sich den Erfolg des Bonner Festivals?

 

Es gab schon viele Stummfilmfestivals, die nur ein paar Jahren existiert haben. Im ersten Jahr werden die großen Klassiker gezeigt — es gibt ungefähr ein Dutzend Filme, die so bekannt sind, dass sie das breite Publikum erreichen. Im zweiten Jahr kommen die zweitbesten Filme. Im dritten Jahr steht man auf dem Schlauch. In Bonn versuchen wir, die Vielfalt des Stummfilms darzustellen. Wir zeigen unterschiedliche Genres, Filme aus möglichst vielen Ländern. Wir versuchen Klassiker, also Filme, die man in Büchern erwähnt findet, und unbekannte Werke in Beziehung zu setzen. Und natürlich präsentieren wir Filme, die so noch keiner kennen kann, weil sie neu restauriert sind. Wenn wir hier im Münchner Filmmuseum etwas restaurieren, haben wir oft das Festival mit im Blick und versuchen dort die Premiere zu machen. Dasselbe gilt für Freunde und Kollegen aus anderen Archiven, mit denen wir zusammenarbeiten.

 


Was zeichnet die Atmosphäre in Bonn aus?

 

Das Festival ist kein Spezialistentreffen von Archivaren und Filmhistorikern. Es ist eine offene Veranstaltung: Hier sitzen der Obdachlose und der Bürgermeister friedlich beieinander und schauen sich einen Film an. Bei der Auswahl gebe ich mir sehr viel Mühe, dass sie vor diesem breiten Publikum bestehen kann. Auch die Musiker für die Filmbegleitung werden sehr genau ausgewählt. Das sind teilweise Leute, mit denen wir schon lange zusammenarbeiten. Denen erkläre ich vorher: In dem Film gibt es die und die dramaturgischen Probleme, da erwarte ich, dass die Musik ein bisschen eingreift. Es ist ja leicht, einen guten Stummfilm mit tollem Rhythmus zu begleiten. Denn da kann man fast jede Musik zu spielen. Bei einem mittelmäßigen Film muss ein guter Musiker herausbekommen, wo die Schwachstellen sind und wie sie zu überbrücken sind. In Bonn haben die Leute immer das Gefühl, etwas Einzigartiges zu erleben. Was auch stimmt, weil die Musiker sich von der Atmosphäre inspirieren lassen. Das ist ein Wechselspiel. Auch der Pianist spürt, wenn er 1500 Leute im Rücken sitzen hat, die mitgehen. Das alles macht die Atmosphäre aus. Wir hatten Veranstaltungen, wo im strömendem Regen einige Hundert Leute ausgeharrt haben, weil sie den Film unbedingt zu Ende sehen wollten.