Beten gen Mekka

Nava Ebrahimi erzählt, wie der

Köln-Merheimer Kleingartenverein

»Vor St. Gereon« Migranten in die

deutsche Schrebergarten-Welt integriert

Ein eindrucksvolles Bild: die Deutschland-Flagge und die schwarz-weiß-gelbe Flagge des Fußballklubs Fenerbahce Istanbul vor unruhigem Himmel. Sie sind an Fahnenmasten aufgezogen, nur ein paar Meter voneinander entfernt, und ragen über die Dächer der Gartenlauben. Wer sich der Schrebergartenanlage »Vor St. Gereon« von der Bahnhaltestelle Merheim aus nähert, sieht sie schon aus der Ferne im Wind flattern, kraftvoll und in leuchtenden Farben. Hielten alle Mitglieder des Kleingartenvereins die Flagge ihrer Heimatländer in den Wind, so entstünde ein Meer aus Symbolen und Farbkombinationen. Schwarz-Rot-Gold wäre nur eine von vielen.
Mit »Vor St. Gereon« hat in Köln eine neue Schrebergarten-Ära begonnen. Denn nirgends sonst pflanzen Kölner aus so vielen verschiedenen Ländern ihr Gemüse an, Seite an Seite, Maschendrahtzaun an Maschendrahtzaun. Von den 110 Pächtern stammen etwa 40 aus Deutschland, ebenso viele aus der Türkei, weitere 30 aus Russland, Polen, Italien, Indien oder Iran. Wer an einem warmen Sonntagabend an den Gärten vorbei durch die Anlage spaziert, sieht Großfamilien an großen Tischen sitzen, türkische Väter Hackfleischspieße für den Grill vorbereiten und Inder mit Turban den Boden rechen. All diese Gartenwelten trennen nur wenige Meter und ein brusthoher Zaun.
Hinter dem Holztor mit der Nummer 98 liegt der Garten von Christoph und Monika Kürten. Christoph Kürten ist Vorsitzender des Kleingartenvereins, manche türkischen Pächter nennen ihn auch »Chef«. Die Kürtens pflegen ihren Garten vorbildlich – nach vorne hinaus den Ziergarten, nach hinten hinaus den Gemüsegarten. Die Goldfische schwimmen durch klares Wasser, auf dem Dach der Gartenlaube sorgt eine Solaranlage für Strom, die Hecke ist in Form. »Manche haben halt nicht so viel Geld und benutzen auch schon mal einen auseinandergenommenen Einkaufswagen als Rankgitter«, sagt Monika Kürten. Aber das sei in Ordnung, so lange die Pächter nicht alles mit Unkraut zuwuchern ließen. Ja, mit der Zeit seien sie toleranter geworden, sagt das Ehepaar.
Als »Vor St. Gereon« vor drei Jahren gegründet wurde, bewarben sich mehr Ausländer als Deutsche um eine Parzelle. Der Kleingartenverein habe daraufhin kurzerhand die Integration von ausländischen Bürgern zum Vereinsziel erklärt, sagt Christoph Kürten. Geplant war das nicht. Aber es läuft, und zwar so: Die ausländischen Pächter müssen sich vertraut machen mit den Vorschriften des Bundeskleingartengesetzes. Das sagt ihnen, dass sie keine hochwachsenden Bäume pflanzen dürfen. Und dass sie mindestens 25 Prozent der Fläche für Gemüse- und Obstanbau nutzen müssen. Letzteres bereitet die geringsten Probleme, denn die meisten ernten mehr Zwiebeln, Tomaten und Zucchini als ihre deutschen Gartenfreunde.
Sie ernten mehr, und sie grillen mehr. Manche türkischen Pächter benutzten am Anfang dazu Holz. »Der Qualm stieg dann jedes Mal auf und legte sich wie eine Glocke über die gesamte Anlage«, sagt Christoph Kürten, der von seiner Parzelle aus den Überblick hat. Er fotografierte die Qualmglocke mit seiner Digitalkamera, druckte das Foto aus und zeigte es den grillenden Türken. Seitdem ist die Luft über »Vor St. Gereon« rein. Dass manche ausländische Vereinsmitglieder »abends, mittags und manchmal auch schon morgens« den Grill anschmeißen, daran hat er sich gewöhnt.
»Wenn wir grillen, bieten wir unseren deutschen Nachbarn immer etwas an«, sagt Fatima Kavan. Bevor sie aus der Laube in den Garten getreten ist, hat sie sich mit einem Kopftuch bedeckt. Ihr Vater Latif Balci hat die Parzelle mit der Nummer 72 gemietet. Er ist 63 Jahre alt und trägt einen weißen Vollbart. Vor 40 Jahren kam er nach Deutschland um zu arbeiten. Er hatte verschiedene Anstellungen, bei Ford etwa und als Reinigungskraft. Heute ist er Frührentner und arbeitet im Garten. Er genieße die frische Luft, die Sonne und das viele Grün, übersetzt seine Tochter. Während Latif Balci erzählt, wäscht er sich mit dem Gartenschlauch, so, wie es der Koran vor jedem Gebet vorschreibt. Ihr Vater habe zwölf Enkel, sagt Fatima, auch das habe für einen Schrebergarten gesprochen. »Die können sich hier richtig austoben.«
Genau zu diesem Zweck legten 1864 Leipziger Bürger einen »Schreberplatz« an: eine Grünfläche, auf der Kinder spielen und turnen sollten. Mit der Industrialisierung und Verstädterung war der Raum für den Einzelnen enger geworden, und die Wiesen knapper. Die Leipziger benannten den Platz nach dem Orthopäden Daniel Gottlieb Moritz Schreber, der den ersten Leipziger Turnverein gegründet und immer wieder darauf hingewiesen hatte, wie wichtig Bewegung und Spiel für die Gesundheit der Kinder ist. Der Lehrer Heinrich Karl Gesell kam kurz darauf auf die Idee, den Kindern auf dem Schreberplatz auch das Gärtnern beizubringen. So entstand der Schrebergarten – und wurde zu einem Hort der Deutschtümelei und Kleinkariertheit.
Wenn ausländische Bürger in diese Welt der deutschen Werte und in Holz geschnitzten Bauernweisheiten vorstoßen, bröckelt dieses Bild. Der Türke verpasst dem Gartenzwerg ein neues Image, wenn er ihn in seinen Garten stellt. Ebenso dem Maggi-Kraut: Bekir Alparslan hat es bei seinem deutschen Parzellen-Nachbarn entdeckt. Und jetzt liebt der 59 Jahre alte Türke das ihm bis dato unbekannte Kraut. Obwohl er sich den Namen nicht merken kann und immer beim Nachbarn nachfragt.
Integration heiße auch, in Gemeinschaftsarbeit die Anlage zu pflegen, sagt Christoph Kürten. Jeder Pächter muss ein- bis zweimal im Jahr anderthalb Stunden für die Gemeinschaft arbeiten, Müll einsammeln etwa. In diesem Punkt ist Kürten noch nicht ganz glücklich. »Wir haben gerade die Strafgebühr für nicht geleistete Gemeinschaftsarbeit von 15 auf 20 Euro hochgesetzt.« Manche hätten sich bisher gedacht: Ich zahle liebe die Strafgebühr.
Die ausländischen Pächter vergäßen häufiger mal, dass sie mit Gemeinschaftsarbeit an der Reihe seien, sagt Kürten. »Das hat schon mit der Herkunft zu tun.« Die Toiletten sähen schlimm aus, in anderen Anlagen sei das »nicht so extrem wie hier«. Und Kürten hat noch mehr auf dem Herzen. Auf dem Parkplatz würden regelmäßig Aschenbecher ausgeleert. Das gebe es woanders auch nicht. Doch dann wird er wieder versöhnlich. »Wir haben halt diese Probleme. Andere Anlagen haben andere, da ziehen die Pächter dauernd vor Gericht.«
Vor Gericht zu ziehen käme dem Inder Gurmej Singh vermutlich niemals in den Sinn, so zufrieden wirkt er in seinem Gartenstuhl vor der Laube. Die Familie lebt seit acht Jahren in Deutschland. Von der Schrebergartenkultur erfuhr sie über indische Bekannte, erzählt Singhs Sohn, während die Tochter Cola und Gebäck reicht. Die Singhs bauen Zwiebeln, Knoblauch und Spinat an, auch Kräuter, deren Samen man nur in indischen Geschäften kaufen kann. Das mache den Reiz von »Vor St. Gereon« aus, sagt seine Nachbarin Claudia Pfützenreuter. »Es ist doch toll, dass man mal was anderes mitbekommt als nur die deutschen Eigenarten.« Mit Singh spreche sie oft Englisch, mit dem türkischen Nachbarn zu ihrer Linken häufig über den Gemüseanbau. »Ich habe keine Ahnung, aber er weiß Bescheid und gibt mir Tipps.« Und weil seine Ernte immer so üppig sei, reiche er regelmäßig Peperoni oder Zucchini über den Zaun, sagt die 35-jährige Mutter. Der Altersdurchschnitt der Pächter liegt in »Vor St. Gereon« bei 45, und nicht bei 55 wie in den meisten alteingessenen Vereinen.
Christoph Kürten hat noch weitere Interessenten auf der Warteliste, viele sind türkischer Herkunft. Letztlich solle der Verein zu einer echten Gemeinschaft werden, irgendwann in der Zukunft. Für ihn heißt das, dass jeder auch an die Nachbarn rechts und links denkt. Dass die Mitglieder selbst in der Lage sind, Probleme zu lösen und nicht sofort zu ihm kommen. Dass der Pächter auch mal eine Eisverpackung aufhebt, wenn sie auf dem Weg liegt. Vielleicht würden sie dann auch ein Vereinsheim bauen, am Haupteingang der Anlage, neben das Toilettenhäuschen. Das Toilettenhäuschen. Kürten guckt genervt. Er ist wieder in der Gegenwart angekommen.