»Ich will nicht interpretieren«

Der ukrainische Regisseur Sergej Loznitsa über seinen Dokumentar­film »Maidan« und warum er keine Helden mag

Herr Loznitsa, stimmt es, dass »Maidan« von der Protestbewegung in der Ukraine als zu distanziert kritisiert wurde?

 

Einige haben ihn kritisiert, andere haben ihn gelobt. Das ist doch toll: Wir haben so lange in einem Land gelebt, in dem nur eine Meinung galt — alle anderen konnte man nur im Gefängnis vertreten. Jetzt darf diskutiert werden.

 


Ihr Film besteht fast ausschließlich aus starren, unkommentierten Totalen, die während der Proteste auf dem titelgebenden Platz in Kiew aufgenommen wurden. Ging es Ihnen um Objektivität im Angesicht von aufgepeitschten Emotionen und Gewalt?

 

Fakten sind objektiv: Menschen wurden verletzt, Menschen starben, der Präsident der Ukraine verließ das Land. Das sind Fakten, der Rest sind Interpretationen. Aber Sie haben recht: Mit meinem Film will ich nicht interpretieren, das sollen die Zuschauer tun. Zugleich stimmt das natürlich nicht wirklich: Ich wähle ja den Bildausschnitt, bestimme die Struktur, zeige manche Episoden und schneide andere raus.

 


Sie verzichten auf Protagonisten, Einzelne werden nicht aus der Masse hervorge-hoben. Was ist der Grund dafür?

 

Ich sehe die Ereignisse rund um den Maidan wie eine griechische Tragödie. Am Anfang steht eine Gruppe von Menschen, der Chor, aus dessen Gesang sich das Drama ja historisch entwickelt hat. Er nimmt gewissermaßen die objektive Position der Masse ein. Der Chor in »Maidan« stellt die Frage nach der Würde des Volkes. Und er weigert sich, die Bühne zu verlassen, bis diese Frage geklärt ist — zwar nicht mit den Göttern, aber den herrschenden Autoritäten. So sehe ich das, weil ich die europäische Kultur gewissermaßen mit der Muttermilch aufgesogen habe. Ägyptische Filmemacher, die einen Film über die Ereignisse am Tahrir-Platz machen, haben wahrscheinlich andere Referenzen.

 


Sie gehen sehr weit in die Vergangenheit zurück. Ein anderes Beispiel: Manchmal hatte ich auf dem Maidan das Gefühl, dass die Protestierenden intuitiv wussten, was zu tun ist. Warum? Vielleicht weil sie es aus Filmen kannten. Ukrainer sind sehr gut auf so eine Situation durch sowjetische Filme über Lenin und die Revolution von 1917 vorbereitet worden: Wie baut man einen Molotowcocktail? Wie erobert man einen Raum? Und nicht zuletzt: Wie wird man zum Helden?

 


Inhaltlich geht es in vielen Ihrer Werke, auch in den beiden Spielfilmen, um die Geschichte und ihren Einfluss auf die Gegenwart. William Faulkner sagte: »Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen.« Das erscheint mir wie ein Motto Ihrer Arbeit. Absolut. Die Vergangenheit ist immer präsent. Das gilt besonders für Russland beziehungsweise die ehemalige Sowjetunion, wo 1945 anders als in Deutschland ja keine Aufarbeitung der Geschichte eingesetzt hat. In gewisser Weise ist die Zeit hier seit 1917 eingefroren: Es gibt immer noch keine Mittelklasse, keine Rechtssicherheit, als Person bist du nichts, es zählt nur die Nation. Alle diese Ideen aus der Zeit Stalins kommen in den letzten Jahren wieder, wo Russland sich wieder stärker fühlt und durch die Einnahmen aus den Bodenschätzen mehr Geld hat.

 


Gerade beschäftigen Sie allerdings die Verbrechen Deutschlands. Sie wollen einen Film drehen über das Massaker von Babi Jar, bei dem 1941 in Kiew 33.000 Juden von Sondereinheiten der SS ermordet wurden. Wie auch schon in Ihrem letzten Spielfilm »In the Fog« geht es um jene »Bloodlands« zwischen Hitlers Deutschland und der Sowjetunion Stalins, über die der Historiker Timothy Snyder 2010 sein vielbeachtetes gleichnamiges Buch geschrieben hat. Haben Sie es gelesen?

 

Ich habe Snyder sogar schon mein Script geschickt. Mir ist es wichtig, historisch korrekt zu arbeiten. Ich stehe auch in Kontakt mit Jonathan Littell. Wir interessieren uns für die gleichen Themen. Ich glaube, in dieser Region geschieht gerade wieder etwas Gefährliches für die Welt. Wir müssen verstehen lernen, wie es im 20.?Jahrhundert zu den unvorstellbaren Grausamkeiten auf diesem Boden kommen konnte. Wie Schritt für Schritt der Weg in die Barbarei gegangen wurde, von der es irgendwann kein zurück mehr gab. Es ist wichtig, jetzt darüber nachzudenken, wenn gerade etwa im Donezk die Situation kippt. Es geht auch um die Frage der Verantwortung: Ist der Arbeiter in der Firma, die das Gas für die Konzentrationslager herstellte, mitverantwortlich für den Holocaust? Die Antwort auf diese Frage beantwortet auch, warum meine Filme keine Protagonisten haben: Wir leben in einer Welt, in der es immer diese Art von Diffusion von Verantwortung gibt. Wo man Teil einer Kette ist, bei der man nicht unbedingt weiß, was am Ende steht. Also muss man auf eine höhere Ebene springen, um überblicken zu können, was passiert.

 


Das ist schwierig bei einem so konkreten Medium wie Film. Ist es nicht einfacher, einer Figur zu folgen?

 

Das glauben wir nur, weil die Filmgeschichte das so vorgibt. Wir sind es gewohnt, im Kino, wie ein Küken der Henne hinterherzulaufen beziehungsweise dem Helden oder der Heldin. Vergiss diese Henne! Du bist als Zuschauer selber die Henne, der Hahn und Gott! (lacht) Du musst nur der Linie folgen, die ich als Filmemacher gezeichnet habe. Ich denke auch, dass das Kino sich in diese Richtung ent-wickelt. Es gibt genug alte, langweilige Geschichten über Helden. Es ist Zeit für komplexere Erzählungen.