Gegen Skurrilitäts-Fluff

 

The Diary of a Teenage Girl erzählt von weiblichem Begehren,

Ängsten und Entgleisungen. Es nennt sich: Pubertät.

San Francisco, in den 70er Jahren: Minnie (Bel Powley) ist ein normales heranwachsendes Mädchen. Normal heißt für sie: Bauch und Hintern entsprechen keinen Model-Standards. Weshalb Minnie sich weder für liebens- noch begehrenswert hält. Auch ihre Brüste findet sie zu klein, wenn sie gleich zu Beginn auf Wolke sieben durch den Park schwebt und ihr Blick die barbusigen Hippiefrauen auf dem Gras streift. Ihr seliges Grinsen kehrt dennoch im Nu zurück: Denn Minnie hatte gerade ihren ersten Sex, wie sie im Voice-Over erklärt. Sie vertraut es zu Hause — einem Albtraum aus groben, orangefarbenen Wolldecken, irren Blumentapeten und falschen Einrichtungsentscheidungen — als erstes ihrem Taperecorder an. 

 

Auch ihre Leidenschaft für Underground-Comics zeichnet sie als Nerd aus — in einer Zeit allerdings, in der Nerds noch nicht als cool galten. Und, gottverdammt, dieser Nerd hat Lust auf Sex, als die Aufbruchsstimmung der Hippies gerade einer handfesten Depression weicht, die wenig später zum nihilistischen Punk führen wird, der sich in Minnies Zimmer bereits als Iggy-Pop-Poster ankündigt.

 

Ihren ersten Sex hatte Minnie pikanterweise mit dem verlotterten Lover ihrer geschiedenen Mutter (Alexander Skarsgård bzw. Kristen Wiig). Und der Teenie denkt nicht daran, es bei diesem einen Mal bewenden zu lassen — oder sich auf einen Mann zu beschränken. Was absehbar für Komplikationen sorgt.

 

Für ihr Regiedebüt hat sich die Schauspielerin Marielle Heller den autobiografisch gefärbten Roman gleichen Titels der Cartoonistin Phoebe Gloeckner vorgenommen. Ein klassischer Coming-of-Age-Stoff, der auf einen blinden Fleck in unserer männlich geprägten Erzählkultur verweist: für junge Frauen ist meist nur vorgesehen, dekorativ zu sein oder als Trophäe zu dienen. Frei von schmierigem Pathos, falscher Scham und betulicher Pädagogik erzählt »The Diary of a Teenage Girl« vor der Kulisse eines kulturellen Zwischenstadiums — nicht mehr Hippie, noch nicht Punk — von der erwachenden, ziemlich verwirrenden Lust auf Sex eines pubertierenden Mädchens. Minnie steht abseits der rigorosen Attraktivitäts-Ökonomien und inmitten einer in Suff und Drogen zerbröselnden Patchworkfamilie orientierungslos an der Schwelle zum Erwachsensein. 

 

Dass auch Mädchen obszön sein können, mit ihren Körpern hadern und nicht unentwegt von der großen Liebe träumen, sondern manchmal nur vögeln wollen, erzählt Heller mit erfreulicher Selbstverständlichkeit: intim und persönlich, aber keineswegs verschämt oder verzärtelt. Da ist schon Minnies leicht ruppiger Charakter vor: »Truck Driver« nennt ein Drop-out-Mädchen sie zärtlich, als sie eine kurze Liaison eingehen.

 

Heller nimmt ihre Figur, deren Lebensumstände und Sorgen, Wünsche und Gelüste, deren Entgleisungen und auch Fehlentscheidungen ernst — ohne zu richten, ohne zu bemuttern, auch ohne in miserabilistische Gefilde abzudriften, die im Stoff — Minnie schrammt haarscharf an der Prostitution vorbei — angelegt wären.

 

Die Schmerzgrenze ist zwar nicht weit, allerdings ohne Figur und Sujet zu opfern. Was auch für die rücksichtsvollen, aber nicht verdrucksten Nacktszenen gilt, die eine schöne Verbindung zur Serie »Girls« bilden: Auch diese schafft es, der Reduktion von Frauen auf  Körperideale durch selbstbewusste Kenntlichmachung ent-gegen zu wirken.« 

 

Auf der Berlinale und zuvor bereits auf dem Sundance-Festival heimste »Diary of a Teenage Girl« zu Recht etliche Preise ein — was skeptisch machen könnte, da das Sundance-Festival seine Vorreiterrolle für neugieriges, frisches Kino lange eingebüßt hat und oft nur erstarrte, typische Indie-Ästhetik zeigt. Mit seinem Vintage-Appeal, dem retro-kompatiblen Soundtrack und zahlreichen sich ins Bild schiebenden, handgefertigten Animationen liebäugelt »Diary« zwar mit dem »Sundance-Stil«, hebt sich aber inhaltlich vom weltabgewandten Skurrilitäts-Fluff generischer Indie-Ware ab.

 

Vor allem erzählt »Diary« aber von einer Künstlerinnen-Werdung: Wie Phoebe Gloeckner ist Minnie Fan der Cartoonistin Aline Kominsky, und wie Gloeckner wird Minnie am Ende selbst Cartoonistin. Das und die eingeschobenen Animationen rücken den Film bemerkenswert nahe an das Biopic »American Splendor« über den Comiczeichner Harvey Pekar. Beide Filme bilden nun ein schönes Doppel über die zweite Generation des autobiografisch geprägten Comic-Undergrounds. Und in beiden schlägt ein gewaltig großes Herz für die gesellschaftlichen Außenseiter.