Für eine neue Wirklichkeit

Marlene Streeruwitz’ Theaterstücke, Essays, Hörspiele und Prosatexte gehören zum besseren Teil Österreichs und ärgern den schlechteren. Das Kölner Literaturhaus widmet einer der klügsten deutschsprachigen Gegenwartsautorinnen eine Werkschau.

»Wir müssen eine neue Poetik des Politischen entwickeln«, erklärte die Demonstrantin Marlene Streeruwitz auf einem der Protestmärsche gegen die Regierungsbeteiligung der rechtskonservativen FPÖ in Österreich. Der Aufstieg des im selben Jahr wie sie (1950) geborenen Jörg Haider bestätigte die Autorin in ihrer These, dass es nie einen wirklichen Bruch mit der (Groß-)Elterngeneration gegeben hatte. Dass sich das Regelwerk, nach dem heute gedacht, agiert und Kindern Rollenverhalten eingebläut wird, noch immer auf der Höhe des 19. Jahrhunderts befindet. Wir müssen endlich in einer Sprache denken lernen, fordert deshalb ihr Essayband »Gegen die tägliche Beleidigung«, die sich nicht an einem Kanon von Klassikern festhält, der der Gegenwart um Hundert bis Zweihundert Jahre hinterher hinkt und unterschwellig eine von Patriarchat, Antisemitismus und Nationalismus geprägte Epoche in das Heute hinein verlängert.
Wie aber lässt sich diese neue Sprache zum Leben erwecken? Natürlich: Durch aus der Theorie abgeleitete »Kunsttexte, die auf nichts verweisen als ihre eigene Wirklichkeit«. Streeruwitz Verständnis des Politischen, das gilt auch für die »feministische« Autorin Streeruwitz, ist kein aktionistisches. Es war und ist immer an die Sprache und das Schreiben gebunden: »Ich schreibe keine politische Literatur. Ich schreibe Literatur politisch.«
Seit dem Aufstieg Haiders hat in der Heimat der in Baden bei Wien geborenen Streeruwitz literarische Vergangenheitsbewältigung Hochkonjunktur. Dabei fällt auf, dass die Fragen, die das Gros der Autoren stellt, und die sogleich gelieferten Antworten inhaltlich einem Deja-vu deutscher NS-Aufarbeitungsliteratur der 60er Jahre gleichen. Aus der Behauptung, dass wegsah, wer nicht mittat, wächst die Losung, dass keiner ohne Schuld, bildet sich der erzieherische Vorwurf, dass jeder zumindest indirekt Täter ist... Täter sind aber immer auch Opfer, kontert Streeruwitz »Gegen die tägliche Beleidigung« und demonstriert anhand eines Theaterabends, dass moralisierende Kunst immer nur die anderen diskreditiert.
Parallel zu dem Essayband ist im Herbst eine neue Erzählung erschienen. Hier macht Streeruwitz die Enkelin eines NS-Verbrechers zur Sympathieträgerin. »Morire in Levitate« zwingt den Leser in die Rolle eines Psychotherapeuten. Die Patientin: Opernsängerin, Mitte Fünfzig. In freier Assoziation lässt sie ihr verpfuschtes Leben Revue passieren. Der Großvater, der für die Fahrpläne von KZ-Zügen aus Ungarn verantwortlich war, wohnt mit im Elternhaus, führt dort das Zepter. Er liebt Wagner & Co., formt aus dem Kind eine Gleichgesinnte, zwängt sie in die Rolle einer Sopranistin. Die Patientin hat als Erwachsene eine gestörte Sexualität, leidet an Depressionen, erkrankt schließlich so stark, dass sie nicht mehr auftreten kann.
Naheliegend und deshalb klischeehaft wirken die ersten Erklärungsmuster, die sich wie automatisch anbieten. Erstens: Per Geburt wurde ihr der sprachliche Stempel »mitschuldig« aufgeprägt. Die Herkunft nimmt die »Enkelin eines NS-Täters« in Sippenhaft. Darin gründet die Krankheit. Zweitens: Nachdem der Großvater – »er hatte nicht einmal Spinat essen können, ohne ein Nazi zu sein« – 1945 die Herrschaft über Leben und Tod von Juden verloren hatte, suchte er sich in der Enkelin ein neues Opfer. Durch die Krankheit befreit sie sich gegen die damals aufoktroyierte Rolle.
Beide Erklärungsmuster arbeiten mit vorgefassten Urteilen. Und das ist das Kalkül der genialischen Marlene Streeruwitz, die wie kaum eine andere mit Rezeptionsgewohnheiten zu spielen versteht, mit Leerstellen im Text, die sich wie von selbst mit kulturell eingeübten Assoziationen füllen. Das erste Erklärungsmodell ruft die Kollektivschuld-These ab, die mit den 68ern, denen die Kriegsgeneration eine konstruktive Auseinandersetzung verweigerte, zur populären Doktrin wurde: »Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem dies kroch«. Das zweite Erklärungsmuster dämonisiert die NS-Verbrecher über das Maß des Realen, konstruiert eine Scheidelinie zwischen Opfer und Täter, die das Böse personifizierbar macht. Hier spiegelt Streeruwitz eine zweite Facette tradierter antifaschistischer Oberflächlichkeit.
»Morire in Levitate« ist als »Novelle« deklariert. Ebenso wie die Sprache, die in ein atemloses Stakkato zerhackt ist, wird das fest definierte Baugerüst dieser literarischen Gattung zerbrochen. Bereits Mitte der 90er Jahre, als Streeruwitz zu den meist gespielten deutschsprachigen BühnenautorInnen zählte, zeigten ihre Stücke aus der Gesellschaft gefallene Menschen in der Komplexität ihres Innenlebens, ohne die Handlung dramaturgisch auf einen Lehreffekt hin zuzuspitzen. Genervt von der Verstümmelung durch das »patriarchale Regietheater«, warf sie damals das Handtuch. Jetzt, als Prosaautorin, kann ihr niemand mehr in ihr Konzept hineinreden.
Ein drittes Erklärungsmodell ist wie beiläufig in »Morire in Levitate« hinein geschoben. Es geht nur deshalb nicht unter, weil es genau dort platziert ist, wo eine klassische Novelle den Aha-Effekt vorsieht. Die Erinnerung wandert zum Quell der Erkrankung. Wandert zu Vater und Mutter – »die dem Großvater den Platz an ihrem Tisch überlassen. Die ihn gefüttert hatten. Die ihm das gegeben hatten, was ihr gehört hätte. Was ihr gehört hätte sollen. Die den Großvater als Überkind aufgenommen.« Sechs Zeilen. Mehr braucht es nicht. Fertig. Und sofort fällt die Protagonistin wieder in die griffige Ausrede zurück: »Die ihn aufgenommen hatten, weil sie es nicht geschafft hatten, zu Gericht zu sitzen.« Das also ist sie: Die neue, von Streeruwitz eingeforderte, unverstellte Wirklichkeit, von der es in »Gegen die tägliche Beleidigung« heißt: »Das heilt nicht. Das rettet nicht. Das erhebt nicht.«
Mit einer brachialen Spektakellosigkeit wird die politische Schuldbezichtigung zugunsten einer viel plausibleren Deutung beiseite geschoben.
Der Greis hatte also die eigentlich für das Kind reservierte Zuwendung abgegriffen. Ein Rollentausch hatte statt gefunden. Die Eltern hatten ihr Kind emotional vernachlässigt. So etwas kann sowohl in einer politisch belasteten wie unbelasteten Familie vorkommen. Und fertig.

Marlene Streeruwitz: Gegen die tägliche Beleidigung. Essays. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2004, 192 S., 18,90 Euro.
Marlene Streeruwitz: Morire in Levitate. Novelle. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2004. 96 S., 18 Euro.

Veranstaltungen

Literarische Werkschau Köln 17.1. bis 20.1.
In Lesungen und Vorträgen fordert Marlene Streeruwitz auf, »das eigene Leben lesen« zu lernen
und befragt die Themen Liebe, Glaube und Hoffnung.

37 Fragen zum Begehren: Liebe
Mit Beispielen aus den Hörspielarbeiten. In Kooperation mit WDR 3.
17.1., 20 Uhr, Kleiner Sendesaal WDR, Funkhaus Wallrafplatz

37 Fragen zum Begehren: Glaube
Mit Beispielen aus den Theaterstücken.
18.1., 20 Uhr, Literaturhaus,
Im Mediapark 5

37 Fragen zum Begehren: Hoffnung
Mit Beispielen aus den Romanen und Erzählungen.
19.1., 20 Uhr, Literaturhaus,
Im Mediapark 5

Wie man als Mädchen sich ein Mann sein lassen kann
Innere Bewegungsmöglichkeiten in Texten von Goethe, E.T.A. Hoffmann, Thomas Mann Kooperation von Literaturhaus und Institut für Deutsche Sprache und Literatur. Einführung: Prof. Günter Blamberger.
20.1., 10 Uhr, Universität zu Köln,
Aula 1 (Hauptgebäude), Eintritt frei