Das Leben direkt vor der Nase

Berührendes Drama: Mia Madre von Nanni Moretti

Manchmal, wenn die Ereignisse gleichzeitig auf uns einprasseln, gleichen sich Frustation und Freude auf magische Weise aus. Ein andermal kommt es so dick, dass es eigentlich nicht mehr auszuhalten ist. An diesem Punkt befindet sich Margherita (Margherita Buy) — die Hauptfigur in Nanni Morettis neuem Film »Mia Madre«.

 

Margherita ist Filmregisseurin und es gewohnt, die Fäden in der Hand zu halten. Aber jetzt scheint ihr alles zu entgleiten. Die Dreharbeiten über den Arbeitskampf in einer Druckerei verzögern sich immer wieder, weil sich der eingeflogene Hollywood-Star Barry Higgins (John Turturro) seinen Text nicht merken kann. Zudem hat sich Margherita gerade von ihrem langjährigen Partner getrennt. Die pubertierende Tochter Livia (Beatrice Mancini) geht schon eigene Wege, und Margheritas Mutter Ada (Giulia Lazzarini) liegt im Krankenhaus, und es wird immer deutlicher, dass sie nicht mehr lange leben wird.

 

Im Chaos der Dreharbeiten steht Margherita immer wieder neben sich, weil sie spürt, dass sie sich eigentlich der Mutter und nicht der Verfilmung einer fiktiven Geschichte widmen sollte. Aber der nahende Tod der Mutter ruft nicht nur Ängste und Schuldgefühle hervor. Die Verunsicherung schärft auch die Wahrnehmung des eigenen Lebens, in dem der alltägliche Stress bislang den Blick auf das Wesentliche verstellt hat.Von ihrer Mutter erfährt Margherita, dass ihre Tochter sich zum ersten Mal verliebt hat. Auch dass ihr Bruder Giovanni (Nanni Moretti) seinen Job aufgegeben hat, um mehr Zeit mit der Mutter zu verbringen, hatte die dauergestresste Endvierzigerin nicht mitbekommen.

 

»Mia Madre« ist kein typischer Midlife-Crisis-Film, in dem jemand verpassten Möglichkeiten hinterherläuft. Vielmehr geht es darum, einen neuen Blick auf das Leben direkt vor der eigenen Nase zu richten. Das gelingt Nanni Moretti wieder einmal mit Empathie, Sensibilität und einem unnachgiebigen Blick für die Brüche und Widersprüche in der menschlichen Seele. Margherita Buy verleiht der Frau, die mitten im Leben steht und ihr Dasein neu ausrichten muss, eine enorme emotionale Transparenz und fragile Kraft. Mit großer Genauigkeit erfasst »Mia Madre« die psychischen Erschütterungen, die mit dem nahenden Tod der Eltern einhergehen. Ein ebenso lebenskluger wie berührender Film.


Mia Madre I/F 2015, (dto), R: Nanni Moretti, D: Margherita Buy, John Turturro,
Giulia Lazzarini, Nanni Moretti, Beatrice Mancini, 106 Min. Start: 19.11.