Intensität der Nähe

Ibeyi überaschen mit einem intensiven, fast schon privatistischen Sound

Richard Russell macht so schnell niemand mehr stutzig. Der Chef des britischen Labels XL Recordings hat in der Vergangenheit mit Radiohead oder Gil Scott-Heron gearbeitet; aktuell zählen Adele und FKA Twigs zu seinem Roster. Allesamt Künstler mit sehr eigenen Vorstellungen und Vorhaben. Und trotzdem haben es zwei Schwestern geschafft, Russell zu überraschen.

 

Russell nimmt 2013 Naomi und Lisa-Kaindé Diaz unter Vertrag, nachdem jemand ihm ein Live-Video von deren Track »Mama Says« zuspielte, um den es hier später nochmal gehen wird. Er besucht das nächste Konzert der beiden, und nur zwei Monate später sitzen sie bei ihm im Studio. Dort verkünden sie, zu dem zeitpunkt gerade mal knappe zwanzig Jahre jung, Russell ihre Vision: Sie wollen auf ihrem ersten Album folkloristische mit elektronischen Klängen mischen, HipHop-Beats einfließen lassen und alles selber spielen und singen. Nur sei es so, dass sie einen Sampler oder Drumcomputer zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal angefasst hätten.

 

Anstatt diesen Anspruch durch und durch vermessen zu finden, lässt sich Russell auf ihr Vorhaben ein und hilft den beiden, einen Sound zu finden, der zu hundert Prozent ihre Persönlichkeiten ausdrückt , wie sie selbst sagen. So entsteht »Ibeyi« in einem Trial & Error-Prozess. 2015 erscheint das Stück, in den Credits der Songs steht tatsächlich neben den Diaz-Schwester nur ein weiterer: Richard Russell.

 

Naomi und Lisa-Kaindé haben es geschafft, die Klänge ihrer Ahnen aus Afrika mit den kon-temporären Sounds der westeuropäischen Musiklandschaft zu mischen. Und daraus zugängliche Pop-Musik zu machen. »Ibeyi«, so heißt nicht nur das Album, so nennen die Schwestern auch ihr Duo. Es bedeutet nichts anderes als Zwillinge auf Yoruba, einem westafrikanischen Dialekt, den die Sklaven nach Kuba brachten und der die beiden Schwestern seit ihrer Kindheit begleitet. 

 

Sie sind zwei der drei Töchter von Miguel Aurelio Diaz, einem Kubaner mit afrikanischen Wurzeln; einem begnadeten Perkussionisten, der u.a. Mitglied des weltbekannten Buena Vista Social Club war. Ihre Mutter ist die französisch-venezuelische Sängerin Maya Dagnino. Gemeinsam zieht der bunte Trupp nach Paris, wo die Mädchen aufwachsen.

 

Ganz Großstadt-Teenies interessieren sich die Schwestern zunächst wenig für die Musik des Vaters. Wenn der fragt, ob er ihnen etwas beibringen dürfe, haben die Mädchen immer etwas Besseres vor. Dann stirbt Miguel Diaz 2006 an einem Herzinfarkt. In ihrer Trauer versucht die Familie, die Verbindung zu ihm aufrecht zu erhalten — natürlich über die Musik. Unbewusst sei das gewesen, aber es habe etwas Spirituelles gehabt, erzählen sie im Interview. So ist das Instrument, für das sich Naomi entscheidet, jenes, dem sich ihr Vater vor seinem Tod am intensivsten gewidmet hatte: Naomi lernt die Cajón, eine Kistentrommel, zu spielen. Lisa-Kaindé setzt sich ans Klavier.

 

Die Wahl der Instrumente drückt die Unterschiede zwischen den Zwillingen gut aus. Lisa ist verträumt und sanftmütig, verbringt ihre Nächte meist zu Hause, Naomi ist energetisch, unterwegs im Pariser Nachtleben. Die eine schwebt, die andere stampft: Melodie und Rhythmus. Im Alltag stoßen sie so immer wieder zusammen, streiten sich. In ihrer Musik haben sie ein Medium gefunden, das ihrer Gegensätzlichkeit Raum bietet und sie vermittelt. Mit Ibeyi vereinbaren die beiden nicht nur ihre vielseitigen kulturellen Backgrounds, sondern auch die Gegensätzlichkeit und trotzdem beinahe telepathischen Verbindung eines Zwillingspärchens.

 

Lisa-Kaindé und Namoi hatten noch eine ältere Schwester, Yanira. Sie stirbt 2013 an einem Hirn-Aneurysma. Den erneuten Verlust verarbeiten die Zwillinge in ihren Texten. Noch im selben Jahr erscheint ihre Debüt-Veröffent-lichung »Oya«, zwei Jahre später folgt das selbstbetitelte Album auf XL Recordings. Die Zwillinge besingen darauf die Geister ihrer verstorbenen Familienmitglieder, ganz wie es in der Tradition des Yoruba üblich ist. Das Album wirkt wie eine dringend benötigte Orientierungshilfe für die beiden. Die Stimmen im Zwiegespräch, die Einflüsse im Einklang: Die Songs helfen den beiden jungen Frauen sich zwischen Leben und Tod, Afrika und Westeuropa und nicht zuletzt in der Zwillingsbeziehung zu verorten und nicht den Kontakt zu einem der vielen Pole verlieren.

 

Das zentrale Stück des Albums ist »Mama Says«. Hier sind die Spannungen am eindringlichsten spürbar.»The man is gone and mama says, there is no life with-out him« singt Lisa-Kahindé und fragt sich im Anschluss, wie sie ihrer trauernden Mutter begreifbar machen kann, wie hilflos solche Aussagen ihre Kinder zurücklassen. Trotz der Angst, ihre Mutter zu verletzen, erlaubt sich die Sängerin ein Zugeständnis an die eigene emotionale Verfassung: -
»It pisses me off, it drives me mad that she lets herself feel so bad.«

 

Auch bei ihren Auftritten ist dieses Stück jedes Mal das intensivste. Der Mutter, gleichzeitig Managerin der beiden, sieht man an, dass dieser spezielle Song ihr weiterhin sehr nahe geht. Bei kleinen Auftritten spürt man förmlich die Dynamik zwischen den drei Frauen, wenn Mama Diaz ihr Smartphone beiseite legt und wahlweise ins Leere starrt oder Blicke mit ihren Töchtern austauscht.

 

Aber die Venues, in denen Ibeyi auftreten, sind größer geworden. Bei ihrem ersten Besuch in Köln traten die Zwillinge im King Georg auf, das Publikum stand ihnen fast auf den Füßen. Im Dezember wird es die Kantine sein. Es wird eine Herausforderung sein, ob die Zwillinge mit ihrem intimen Sound auch die größeren Veranstaltungsorte ausfüllen können. Bis jetzt jedenfalls haben sich Ibeyi noch nicht vermessen.