Out of Esslingen

»Die Nerven« sind mit ihrem dritten Album die Band der Stunde

Die Musikbox steht unbenutzt in der Ecke und wartet auf Inbetriebnahme. Kevin Kuhn sucht den -Stecker. Vielleicht möchte er aber auch nur kontrollieren, ob »Nichts Neues« zum Repertoire der Box gehört. Jene Single, die »Die Nerven« vor zwei Jahren für das vor einiger Zeit reaktivierte legendäre Noiserock-Label Amphetamine Reptile eingespielt haben, als erste deutschsprachige Band überhaupt. Das sagt vielleicht mehr über den Stellenwert des Trios aus Esslingen, Baden-Württemberg, als Huldigungen in Spex, Spiegel und StadtRevue.

 

Wir sitzen in der Villa des Kölner Verlegers Matthias Hörstmann, wo unter anderem die Intro-Redaktion untergebracht ist. Es ist eines von vielen Interviews an diesem Tag, das Medieninteresse zur Veröffentlichung von »Out« ist riesig. Kuhn, der seit zweieinhalb Jahren am Schlagzeug der Band sitzt, und Julian Knoth (Bass, Gesang) sind trotzdem auffallend höflich und mit Ernst bei der Sache. Max Rieger, Gitarre, Gesang, ist nicht mit von der Partie. Andere Termine.

 

Irritiert davon, dass ihr vor fünf Jahren in der Provinz ins Leben gerufene Bandprojekt von Stuttgarter Zeitung (»Stuttgart ist das neue Seattle«) bis Rheinische Post (»Lärmender Punk zum Nachdenken, tiefschwarz und sehr schön«) über den grünen Klee gelobt wird, sind Kuhn und Knoth nicht. Für Kuhn gibt es kein Lob von der falschen Seite, im Gegenteil: »Dann mischen wir den Laden eben ein bisschen auf, wir infiltrieren die bürgerliche Presse«. Und Knoth ergänzt: »Wir haben das Album gemacht, jetzt liegt es nicht mehr in unseren Händen, sondern in den Läden und auf den Tischen der Redakteure. Da macht dann jeder damit, was er will.« Die Resonanz auf ihr neues Album »Out« (Glitterhouse/Indigo) sei gigantisch, dreimal so wuchtig wie beim letzten Album, resümiert Kuhn. Geheimtipp war gestern.

 

Ansonsten sei die Euphorie noch nicht ausgeartet, man müsse sich keine Sorgen machen. Trotz des Wechsels von ihrem angestammten Label This Charming Man zu Glitterhouse. Rembert Stiewe, einer der Gründer der wohlbekannten Plattenfirma, engagierte die Band quasi vom Eurosonic in Groningen weg. Stiewe habe sich nach dem Auftritt des Trios wieder jung gefühlt, berichtet Knoth und zeigt sich zufrieden mit der neuen Wahl. Die Kapazitäten von This Charming Man seien an ihre Grenzen gestoßen, es sei Zeit für den nächsten Schritt gegen den Stillstand gewesen. Und in Zeiten, in denen eine non-lineare Wucht von Buch wie Frank Witzels »Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969« mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wird, könnten die Nerven auch locker ein paar Echos gewinnen. Undenkbar ist bei ihnen nichts mehr.

 

Man hört es den zehn neuen Stücken bei jedem Takt an. Die Band weiß genau, was sie will, die Songs sind deutlich arrangierter als noch auf »Fluidum« oder dem Nachfolger »Fun«. Das verflixte dritte Album: Für das Trio war das augenscheinlich kaum mehr als eine entspannte Pflichtübung. Kein Druck, keine Erwartungen, nur Konzerttermine. Kuhn: »Wir spielen noch gar nicht so lange zu dritt zusammen, da ist ja noch jede Menge Luft nach oben. Wir waren in einem Flow drin bis zum letzten Januar, wo wir die erste Bandpause gemacht haben.« Man sei direkt nach ausgedehntem -Touren ins Studio gegangen, um eingespielt zu sein, ergänzt Kollege Knoth.

 

Das Album wirkt tatsächlich so, als wäre es in einer einzigen Einspielung entstanden. One Take. Was natürlich keineswegs so war. Knoth: »Wir hatten Zeit, die Songs konnten wachsen, von August bis Dezember, auf der Tour. Dann hatten wir die so drauf, dass wir im Studio in aller Ruhe an ihnen rumbasteln konnten. Die Sicherheit dazu hatten wir ja.« Der Bass von Knoth ist präsenter denn je, die Noiseattacken der ersten beiden Alben wurden auf ein notwendiges Maß reduziert, jeder Break sitzt. Dazu gewohnt wenige Textzeilen, die aber dank ihrer kargen Präsenz ins Mark treffen. Knoth und Rieger schreiben die Texte gemeinsam. Die Musik entstehe im Trio, danach kommen die Lyrics. Knoth betont, alles sei »gleich wichtig. Nichts ist wichtiger.«

 

Ob Knoth ahnt, dass er sich soeben unbewusst auf »Yü Gung«, den Monsterhit der Einstürzenden Neubauten, bezogen hat? Er räumt ein, er wisse nicht immer direkt, was in den Songs genau passiere, es gebe mehrere Deutungsweisen. Seine Texte sollen zudem keinen Halt geben, es gehe darum »die Sachen rauszuprügeln«. Manche Zeilen muss man aber wohl niemandem erläutern: »Sie haben ein Problem mit Leuten, die Recht haben/sie haben ein Problem mit Leuten mit Problemen/letztendlich haben sie ein Problem mit Problemen/manche haben sich was in die Ohren gesteckt.« 

 

Seitdem Die Nerven 2012 mit ihrem ersten Album die Bühnen der Kellerclubs betraten, boomt die Sache mit der juvenilen Verzweiflung und dem melancholischen Aufbegehren: Messer, Karies, Human Abfall, Isolation Berlin — alles junge Bands aus Deutschland, eine Armada der Dringlichkeit. Es gibt einige Querverweise — so schwingt Kuhn auch bei Karies die Trommelstöcke — aber kein Netzwerk. Keine Neue Deutsche (Punkrock)Welle, obwohl die Die Nerven Slogans wie diese liefern: »Du siehst mich niemals wieder/merk’ Dir mein Gesicht/denn wenn Du denkst ich sei es/dann bin ich’s sicher nicht.« (»Die Unschuld in Person«).

 

In der Dokumentation über die Israel-Tour der Nerven hat Rieger den Wunsch geäußert, in dieser Band zu sein, bis er und seine Bandkollegen tot umfallen. Darauf angesprochen, lachen seine Kollegen. Man sei gespannt auf das, was komme und wolle in erster Linie in Würde alt werden. »Die Band ist nicht auf die Zeit festgelegt, sondern auf die Konstellation«, bekräftigt Knoth. Es gehe um den Spirit! Peinliche Alterswerke werde es in keinem Fall geben, das Bild der zornigen Jugend irgendwann von selbst verblassen. Wir sprechen uns in zehn Jahren!