Eine unerwartete Liebe

»Carol« von Todd Haynes

Wenn man uns im Kino oder vor dem Fernseher zu Tränen rühren will, dann meist mit Schnulzen. Das Melodramen auch intelligent sein können, zeigen »Far From Heaven« (2002) und »Mildred Pierce« (2011). Die emotionale Wucht der beiden Werke von Todd Haynes ist umso erstaunlicher, da sie aus gegensätzlichen Ansätzen herrührt: »Far From Heaven«, der vierte Spielfilm des US-amerikanischen Indie-Regisseurs, war ein kühner Pastiche, der allerlei Tabus des klassischen Hollywoods berührt. Haynes‘ für HBO gedrehter Mehrteiler »Mildred Pierce« dagegen war einem zurückhaltenden Naturalismus verpflichtet, der die Literaturvorlage buchstabengetreu umsetzt. Haynes’ neuester Film mischt nun gewissermaßen beide Ansätze — und wirkt ebenso bewegend.

 

»Carol« basiert auf einem frühen autobiografisch inspirierten Roman von Patricia Highsmith. Darin wird von zwei New Yorkerinnen erzählt, die sich zufällig in einem Kaufhaus begegnen und während einer ziellosen Reise gen Westen zum Paar werden. Weil das Buch in den 50ern Jahren angesiedelt ist, zeitgenössische Ressentiments thematisiert und von weiblicher Selbstfindung handelt, erinnert die Verfilmung an »Far From Heaven«, zumal sie dramaturgische Mechanismen ebenfalls selbstreflexiv spiegelt: Einen Revolver lässt Haynes so unvermittelt auftauchen, dass man an Anton Tschechows Diktum erinnert wird, demzufolge Dramatiker Schusswaffen nur erwähnen sollen, wenn ihre Figuren sie auch abfeuern.

 

Solche Anflüge ironischer Selbstreferenz haben allerdings bei Highsmith ihren Ursprung, und sie brechen kaum die einfühlsame Nüchternheit des Erzähltons. Anders als in der Vorlage wechselt die Perspektive zwischen beiden Protagonistinnen, und eine Rahmenhandlung bleibt zum Teil absichtlich vage. So blickt man aus einer gewissen Distanz aufs Geschehen, was beiden Haupt-figuren Raum lässt, sich der eigenen Gefühle zu vergewissern. In -Rooney Maras Gesicht kann man lesen, wie in ein offenem Buch, während die von ihr gespielte introvertierte Verkäuferin die eigene Verblüffung über eine unerwartete Liebe verarbeitet. Noch hinrei-ßender als Maras Leistung, die in Cannes mit einem Darstellerinnen-Preis belohnt wurde, ist allerdings die von Cate Blanchett in der Titelrolle.  Ihre Figur kämpft im Zuge einer Scheidung um das Sorgerecht für ihre Tochter. Dass Blanchett glaubhaft Eigensinn und Souveränität verkörpern kann, weiß man. Wie sie hier gleichzeitig Bodenständigkeit aufscheinen lässt, ist hingegen eine schöne Überraschung.

 

Carol (dto) USA 2015, R: Todd Haynes, D: Cate Blanchett, Rooney Mara, Kyle Chandler, 118 Min.