Löchrig wie ein Schweitzer Käse

Zwei altersschwache belgische Reaktoren, deren Sicherheit höchst umstritten ist, dürfen im Dezember wieder ans Netz. Wissenschaftler, Mediziner und Bürger schlagen Alarm, weil Nord­rhein-Westfalen von einer nuklearen Katastrophe massiv betroffen wäre. Eine Geschichte über falsche politische Diplomatie, Lobby­ismus und das Versagen einer Kontrollbehörde

Der grüne NRW-Umweltminister Johannes Remmel nennt sie »Bröckel-Reaktoren«: die belgischen Atomkraftwerke Tihange und Doel. Und tatsächlich: Am Rande des beschaulichen Dorfes Huy in Belgien, 20 Kilometer von Lüttich entfernt, ragen drei gewaltige Kühltürme in den Himmel. Der Putz bröckelt, Risse durchziehen den Beton, der sich an vielen Stellen schon bräunlich-schwarz verfärbt hat. Aber nicht die Fassade ist das Problem, sondern das Herzstück des Reaktors. Der stählerne Reaktordruckbehälter des Blockes 2 in Tihange, der als Schutzhülle die radioaktiven Brennstäbe umschließt, ist von 3150 Rissen durchzogen. Die größten sind bis zu 15,5 Zentimeter lang. In Doel 3, einem von vier Meilern 15 Kilometer von Antwerpen, wurden sogar 16.000 Risse entdeckt. Eineinhalb Jahre waren die beiden Blöcke zuletzt abgeschaltet. Nun hat die belgische Atomaufsichtsbehörde FANC der Betreiberin Electrabel gestattet, die Meiler Mitte Dezember wieder hochzufahren. In Tihange startete der Betrieb am 14. Dezember, Doel soll folgen. 

 

»Das ist ein menschenverachtendes Vorgehen. Hier geht es um tickende Zeitbomben«, sagt Jörg Schellenberg vom »Aachener Aktionsbündnis gegen Atomenergie«. Aachen liegt 65 Kilometer in Hauptwindrichtung von Tihange entfernt, Köln 120 Kilometer. Jörg Schellenberg arbeitet in der IT-Branche, er ist ein ruhiger Gesprächspartner. Er argumentiert sachorientiert, führt Gutachten an, beruft sich auf internationale Wissenschaftler. »Es ist eine völlig absurde Situation. Die fahren ein 30 Jahre altes AKW wieder an, dessen wichtigstes Bauteil handtellergroße Löcher hat. Nach deren eigenen Aussagen wäre es
so niemals abgenommen worden.«

 

Die Geschichte ist komplex: Im Sommer 2012 wurden die Risse am Reaktordruckbehälter erstmalig bekannt. Die FANC rief ein »internationales Expertengremium« zusammen, laut Schellenberg »wirtschaftlich abhängige Lobbyisten«. Im Juni 2013 gehen die beiden Reaktoren wieder ans Netz. Die FANC führt die Risse »most likely« auf »Wasserstoffeinschlüsse« zurück, die schon bei der Herstellung der Druckbehälter in den 70er Jahren entstanden seien und demnach keinen Einfluss auf die Sicherheit der Anlagen hätten. Aus Sicht der Betreiberin Electrabel die bestmög-liche Erklärung. Unabhängige Experten wie Ilse Tweer finden eine solche Herleitung »wissenschaftlich hanebüchen.« Tweer ist Physikerin mit Schwerpunkt Materialwissenschaften, sie hat unter anderem als Gutachterin für das Institut für Risikoforschung in Wien gearbeitet. Im Auftrag der Grünen im EU-Parlament hat sie 2013 eine Studie verfasst, die eine andere These stark macht: »Die Defekte können im laufenden Betrieb entstanden oder größer geworden sein. Warum wurden bei der Abnahme keinerlei Mängel festgestellt, obwohl die Technologie schon damals dazu in der Lage war? Das ist absolut unlogisch.«

 

Unlogisch ist auch die Fortsetzung der Geschichte: Im Februar 2015 geben Electrabel und FANC bekannt, man habe nach einer erneuten Untersuchung tausende neue Risse in den Reaktoren gefunden. In Tihange 2 stieg die Zahl von 2000 auf 3150, in Doel 3 von 10.000 auf 16.000. Auch die Größe hat sich mehr als verdoppelt: In Doel 3 wachsen die Risse von neun auf maximal 18 Zentimeter, in Tihange 2 auf 15,5 statt sechs Zentimeter. Electrabel verkündet dennoch weiter, dass die Risse nicht gewachsen seien. Die neue Zahl sei nur auf verfeinerte Messmethoden mit einem modernen Ultraschallgerät zurückzuführen. Die Atomaufsichtsbehörde segnet das ab. Auch das neue Gutachten der FANC, das im November 2015 veröffentlicht wurde, bleibt einiges schuldig, vor allem eine schlüssige Antwort auf die Frage: Warum hat man die großen Risse nicht schon 2012 bemerkt? »Es muss etwas bei der Herstellung passiert sein, das während des Betriebs zu größeren Defekten geführt hat«, befindet Ilse Tweer. 

 

Ilse Tweers These wird in Belgien nicht gerne gehört. In dem neuen Gutachten vertritt einer von neun Experten, dessen Name im Report nicht genannt wird, eine ähnliche Haltung. Seine Einwände finden zwar Erwähnung, werden aber laut Tweer ignoriert. Kein Wunder: Risse am wichtigsten Bauteil, die größer werden, deuten auf eine verstärkte Materialermüdung hin und sind so etwas wie der worst case der Werkstoff-Experten. »In dem Fall müsste der Reaktor sofort abgeschaltet werden«, so Tweer. Die Integrität des Druckbehälters wäre damit nicht mehr garantiert: »Bei einem Störfall kommt Notkühlwasser auf die 360 Grad heiße Wand des Reaktordruckbehälters. Das ist vergleichbar mit hoch erhitztem Glas, das in Verbindung mit kaltem Wasser platzt. Wenn das passieren würde, käme es zur Kernschmelze.« Die belgischen Atomkraftwerke — vier in Doel und drei in Tihange — gelten als störanfällig: Man hört von kleineren und größeren Zwischenfällen, von radioaktivem Wasser, das in die Maas sickert, oder der Suspendierung von Mitarbeitern, die mit Sicherheitsregeln »nonchalant« umgehen. 

 

In den Augen der Kritiker ist nicht nur die Betreiberin Electrabel, sondern auch die FANC in Verruf geraten: »Für mich hat sie ihre Glaubwürdigkeit verspielt«, sagt Benno Peters, Mediziner aus Aachen, der in der Ärzteinitiative »Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges« (IPPNW) aktiv ist. Auch die personelle Verstrickung zwischen Electrabel und FANC stoßen ihm auf:  Im Januar 2013 wurde Jan Bens zum neuen Chef der Atomaufsichtsbehörde ernannt. Zuvor war er als Leiter des AKW-Standortes Doel bei Electrabel beschäftigt. 

 

Auch das Verhalten der deutschen Politik ärgert Peters. Die Initiative setzt sich seit Jahren dafür ein, dass alle Haushalte mit Jodtabletten versorgt werden. Die Tabletten können im Falle eines Atomunfalls vor Schilddrüsenkrebs schützen — wenn man sie rechtzeitig einnimmt. Die Katastrophenschutzpläne in NRW sehen aber vor, dass erst nach Eintreten eines Unfalls Jodtabletten verteilt werden. »Jeder gibt die Verantwortung weiter. Die Stadt ans Land, das Land an die Feuerwehr. Und die Feuerwehr sagt, dass sie eine rechtzeitige Verteilung nicht schaffen«, sagt Peters. Auf Druck der Initiativen kam es im Aachener Rathaus nun zu einem Sinneswandel. Ein Krisenstab simulierte den »größten anzunehmenden Unfall« (GAU) und räumte ein, dass es doch sinnvoll sei, Jodtabletten vorab zu verteilen. In Köln ist dies bislang nicht passiert. Auch eine Resolution zur Abschaltung der AKWs, wie von 40 grenznahen Kommunen verabschiedet, steht aus. »Es gibt eine Beißhemmung. Auch das Land setzt sich nicht groß dafür ein. Und der Bund schon mal gar nicht«, sagt Peters.

 

Sylvia Kotting-Uhl ist atompolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag. Seit drei Jahren stellt sie umfangreiche Anfragen an das Bundesumweltministerium, das für die Atomaufsicht zuständig ist: »Es lief immer gleich ab. Die Bundesregierung verweist vor lauter politischer Überängstlichkeit  auf die Souveränität des belgischen Staates.« Mittlerweile prüfen die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit in Köln und die Reaktorsicherheitskommission im Auftrag des Umweltministeriums die Unterlagen der FANC. »Offensichtlich trauen sie der Wiederanfahr-Erlaubnis doch nicht über den Weg!«