Das Fenster zur Welt

Die Digitalisierung des Alltags stellt das Kino vor ein Problem: Unsere Lebenswelt entzieht sich immer mehr der filmischen Darstellbarkeit

Der Mensch schaut immer längere Zeit seines Lebens auf Bildschirme oder interagiert mit ihnen, nicht nur während der Arbeit, sondern auch in der Freizeit. Es findet eine radikale Reduzierung der Gegenstände statt, mit denen er in Beziehung tritt. Deren Stelle nimmt die Universalmaschine Computer ein, die Musik macht, den Weg weist und das Spielzeug ersetzt. Ein ­Laptop, ein Tablet, ein Smartphone ist für die Kamera aber fast so undurchdringlich wie der schwarze Monolith aus Kubricks »2001«. Ein zunehmendes Problem für jeden Regisseur. Monitore und Menschen vor Monitoren ließen sich schlecht filmen, schreibt der Berliner Regisseur und Drehbuchautor Christoph Hochhäusler auf Nachfrage in einer E-Mail.

 

»Überhaupt frage ich mich oft, ob das Zeitalter des Sichtbaren (oder des Glaubens daran) endgültig vorüber ist, wenn man betrachtet, wie algorithmisch die Welt geworden ist, wie unsichtbar die Netzwerke sind, die Aktien steigen oder Länderratings fallen lassen. Die dem Kino inhärente Ideologie, wonach die Welt sichtbar (gemacht) werden kann, stößt immer öfter an ihre Grenzen.«

 

Im gegenwärtigen Kino kann man beobachten, wie häufig die Gegenwart analoger dargestellt wird, als sie ist. Wer darauf achtet, findet Beispiele: Immer noch werden in Filmen etwa gerne Schallplatten aufgelegt, auch wenn der Marktanteil von Vinyl bei zwei Prozent liegt. Im Einzelfall mag das stimmig sein, aber die Gefahr besteht, dass die Glaubwürdigkeit strapaziert wird.
Natürlich ducken sich nicht alle Filmemacher vor unser durchdigitalisierten Gegenwart weg. Das Kino sucht schon seit Jahren nach Wegen, das Geschehen auf Bildschirmen und in Rechnern transparenter und visuell ansprechender darzustellen. Wenn Filmemacher in modernen Blockbustern nicht umhin kommen, Bildschirme zu zeigen, sind diese oft überwältigend groß und stellen spektakuläre 3D-Animationen dar. Oder sie werden durch holografische Projektionen ersetzt, mit denen man interagiert, wie schon Tom Cruise in »Minority Report« (2002). Andere Filmemacher suchen das Spektakel zusätzlich auf der Mikroebene. »Tron Legacy« (2010), »Blackhat« (2015) und »Who Am I« (2015) bereiten mit digital animierten mikroskopischen Bildern von Platinen und Prozessoren metaphorische Übertragungen vor. In Parallelmontagen werden plötzlich aus Chips und Datenleitungen Hochhäuser und Straßen — der Computer als Großstadt in nuce.

 

In allen drei oben genannten Filmen spielen Hacker die Haupt­rollen. Sie haben wenig gemein mit den pickligen Nerds und Geeks aus den Highschool-Filmen vergangener Jahrzehnte. In »Blackhat« wird der Protagonist, ein straffällig gewordener Hacker, von Chris Hemsworth gespielt, der mit seiner beeindruckenden Physiognomie kurz zuvor noch den Donnergott Thor in der Verfilmung des gleich­namigen Marvel-Comics verkörpert hat. In »Tron Legacy« wurde die Hauptrolle mit Garret Hedlund besetzt, der vor seiner Schauspielkarriere Football gespielt und als Model gearbeitet hat. Es liegt der Verdacht nahe, die physische Präsenz der Schauspieler soll hier kompensieren, dass sie ganz unphysische Aufgaben zu bewäl­tigen haben.

 

In den letzten Jahren hat sich im Horrorfilm ein Subgenre entwickelt, das seinen Schrecken daraus gewinnt, dass wir Computern eine zentrale Rolle in unseren Leben eingeräumt haben, ohne deren Funktionsweise wirklich zu verstehen. Diese Filme meiden den Bildschirm nicht, im Gegenteil: Sie schauen dem Feind im wahrsten Sinne des Wortes direkt ins Auge. »Desktop-Filme« wird dieses neue Genre genannt, in dem ausschließlich das zu sehen ist, was sich auf dem »Schreibtisch« eines Computers abspielt. In Filmen wie »The Den« (2013), »Open Windows« (2014), »Ratter« (2015) und »Unknown User« (2014) wird die reale Welt gar nicht mehr »direkt« dargestellt, sondern nur noch deren audiovisuelle Vermittlung via Skype, Youtube, Instagram, Facebook, Chatroulette und anderen Web-Seiten und Internet-Platt­formen.

 

Dass die Leinwand vielleicht in Zukunft öfter zum »second screen« degradiert wird, hört sich für Cinephile wie eine Horrorvorstellung an. Das verblüffende aber ist, wie mühelos die meisten der oben genannten Beispiele die Aufmerksamkeit fesseln. Diese Filme funktionieren intuitiv — zumindest für diejenigen, die online auch soziale Medien nutzen. Die multiplen Fenster, die beliebige Kombinationen von Bild, Text und Ton ermöglichen, sorgen für eine komplexe und schnelle Erzählweise, die in den Händen eines fähigen Regisseurs die bisher bekannten Split-Screen-Parallelmontagen aus Kinofilmen geradezu schwerfällig erscheinen lassen.

 

Natürlich haben die Regisseure weniger Probleme mit der Virtualisierung unserer Alltagswelt, die Film als einen Rahmen betrachten, um eine bekannte Metapher aus der Filmtheorie zu verwenden. Also die Filmemacher, die sich  eher als eine Art Maler sehen, der ein Bild komponiert, das mehr oder minder die Realität abbildet.

 

Schwieriger wird es für diejenigen, die in der Folge von Siegfried ­Kracauer oder André Bazin das Kino als Fenster zur Welt verstehen, die die Kraft des Kinos gerade in dessen direktem Realitätsgehalt verorten. Das gilt besonders für den Dokumentarfilm und auch für alle filmischen Strömungen, die sich in der Nachfolge des Neorealismus sehen — aber auch für gewöhnliche Dramen und viele Komödienformen. Sie alle müssen sich mit einer immer unfilmischer werdenden Lebenswelt arrangieren, wenn sie nicht retro werden wollen. Denn unser Fenster zur Welt ist heute das Fenster, das sich öffnet, wenn wir den Startknopf unseres Computers drücken.