Schlaf und Schrecken

Alexandre Tharaud interpretiert die Goldberg Variationen

Eine im Wortsinne unfassbare Sanftheit strahlen diese Töne aus, sie erschaffen einen musikalischen Raum, durch den man sich nur auf Zehenspitzen bewegen möchte, man hält die Luft an und konzentriert sich dann aufs Ein- und Ausatmen, nichts darf stören. Als ginge es um kostbarsten Kinderschlaf, um die intimsten Gefühle der Liebenden: Gefühle, die im Raume schweben, aber unausgesprochen bleiben. So spielt der 47jährige französische Pianist Alexandre Tharaud die »Goldberg-Variationen«, die der schon 66jährige Johann Sebastian Bach 1741 komponierte (BWV 988).

 

Nüchtern ausgedrückt: Tharaud kostet die Länge einer CD voll aus, seine Variationen dauern 75 Minuten, zum Vergleich: Glenn Goulds kanonische Interpretationen drängten sich auf 39 (1955) resp. 51 Minuten (1981). Bach hatte die Variationen ohne Zeitangabe fixiert oder eben: nicht-fixiert. Tharaud lässt sich also Zeit, er spielt die Variationen regelrecht strukturalistisch, gestochen klar, die Beziehungen der Töne unter­einander werden akribisch analysiert, es gibt nichts schwelgerisches, nichts besessenes (der Wahnsinn, der bei Gould immer durchblitzt …), stattdessen scheint der Ausdruck fast ganz hinter der distinkt herausgestellten Struktur zu verschwinden. Das nötigt Respekt ab. Aber auch Bewunderung?

 

Goldberg gab es wirklich: Es handelt sich um den damals 14jährigen Cembalisten Johann Gottlieb Goldberg, der am Dresdner Hof beschäftigt war und den russischen Gesandten Graf Hermann Karl von Keyserlingk, der an Schlaflosigkeit und Angstattacken litt, mit sanfter Musik durch die Nacht und in den Schlaf bringen sollte. Goldberg improvisierte — ohne Erfolg, und so kam Bach zu dem Auftrag, für ihn diese geschmeidigen Übungen zu schreiben, die sich wie ein endlos fortspinnender Faden entwickeln, ohne jemals böse Überraschungen zu offenbaren.

 

So geht die Legende. Dieter Kühn, der im Juli verstorbene Kölner Schriftsteller, hatte vor vierzig Jahren aus dieser Konstellation ein beklemmendes Hörspiel gemacht — vielleicht das beste seiner Zeit. Demnach spiegelt sich in der Schlaflosigkeit Keyserlingks der Schrecken eines Regimes wider, in dem Soldaten brutal dressiert, Lehrlinge gefoltert und Bauern rücksichtslos ausgepresst wurden. Die Sanftheit der Musik soll der Verdrängung zum Erfolg verhelfen. Goldberg starb schon 1756 nicht ganz 29-jährig, er galt als Sonderling, verschlossen und zurückweisend. Wusste er, welchen Horror er zu verdrängen half, ist die unendliche Sanftheit der Variationen nur der sublimierte Ausdruck des Schreckens? Sind die intimen, so greifbaren wie unaussprechbaren Gefühle in Wirklichkeit solche der Demütigung und der Schmach? Kühn legt das nahe.

 

Alexandre Tharaud ist ein überlegen(d)er Virtuose, seinem Strukturalismus sollte man trotzdem misstrauen.