Erleuchtung mit Beleuchtung

materialien zur Meinungsbildung /// folge 168

Man kann die Straßenbahnen unserer großen Städte als mobile Versammlungsorte begreifen. Unaufhörlich bilden sich neue, beliebig zusammengesetzte Gruppen und lösen sich wieder auf. Ein rasender Marktplatz, dessen weitere Besonderheit ist, dass sich dort Stumme tummeln. Denn die Vorherrschaft des Smartphones hat doch ihr Gutes: Die Menschen quasseln kaum noch, stattdessen bleiben sie bei sich oder dem, was sie dafür halten: Sie starren auf ihr Smartphone, ihr Hirn to go. Wie sagte Gesine Stabroth, als sie ihr Handy suchte: »Wo hab ich nur meinen Kopf

 

Im größten Getümmel entsteht klosterhafte Stille, wenn alle auf die Displays blicken. Den Kopf gesenkt, der Blick erwartungsfroh, nehmen ihre Körper eine Haltung an, die einer Ikonographie der Demut entspricht. 

 

Derart las schon die Heilige Jungfrau ihren Psalter, und auch Büßer und Bekehrte sitzen so in die Worte des Herrn vertieft. Moment mal! Das sind Top-Motive für Instagram! Klaro, war im Barock aber noch nicht erfunden. Also packten die Alten Meister Pinsel und Palette aus. Auf ihren Gemälden sehen wir, wie mit verblüffendem Chiaroscuro ein göttliches Licht auf den Gesichtern der Versunkenen erstrahlt. Die göttliche Lichtflutung scheint dabei geradewegs den heiligen Schriften zu entströmen, die all die Frommen in Händen halten — obwohl die frommen Bücher ja nicht Gadgets mit LED-Hintergrundbeleuchtung waren, sondern eher öko-zertifizierte Null-Energie-Handouts für den religiösen Ausnahmezustand. Alles ohne Strom! Man musste nicht alle naselang eine Steckdose fürs Ladekabel suchen! Die Smartphone-Nutzer jedoch werden von einem Licht bestrahlt, das tatsächlich dem entströmt, was sie in ihren Händen halten. Symbolisiert dieses diffuse Blau der nicht Himmel und Unendlichkeit?

 

Überhaupt: So wie sich in den heiligen Schriften eine Welt hinter den Dingen ankündigt, so wittert auch der Handy-Mensch eine Welt hinter dem Display, die gleichfalls süßer ist als das, was ihm diesseits des Displays geboten wird. Auch der Smartphone-Benutzer möchte erhört werden. Erwartet er nicht freudig ein Vibrieren in den Händen? Oder den Chor der Himmlischen Heerscharen, und sei’s auch nur als fancy ringtone?

 

Daran musste ich denken, als ich in der Straßenbahn ein Frau sah, die zu beten schien. Es war verstörend: das leise, freundliche Murmeln; der entrückte Blick ins Leere (und nicht auf meine Plastiktüte mit den Bierpullen von Trinkhalle Hirmsel, wie ich zunächst glaubte, um eine natürliche Erklärung zu haben). Da kicherten viele Menschen, und ich strengte mich an, so zu tun, als ob nichts sei. Dabei geschah doch Ungeheuerliches. Mancher schüttelte kurz den Kopf — und senkte ihn dann wieder.

 

Die Orthopäden warnen übrigens immer häufiger vor dieser ungesunden Haltung. Während der Handy-Nutzung wird die Halswirbelsäule unsachgemäß strapaziert. Denn jeder Kopf hängt, ungeachtet seines tatsächlichen Speichervolumens, mit rund 25 Kilogramm herab. Dadurch kann es zu Ohrensausen, Schwindel und Verkrampfungen kommen. Mein Gott! Kann man das nicht auch als säkularisierte Ausprägungen einer höheren Ekstase begreifen? Oder vermittelte sich umgekehrt den Heiligen womöglich Gottes Wort als Ohrensausen aufgrund ergonomisch nachteiliger Haltung beim Studium der Schriften? 

 

Heilige Schriften und Handy — es sind zwei Pforten zu einer anderen, besseren Welt. In welchem Falle diese uns als Trugbild erscheint, soll jeder selbst entscheiden. Digital und hochauflösend aber sind keine hinreichenden Kriterien, um diese Frage zu entscheiden. Ab und zu über den jeweils anderen den Kopf zu schütteln, mag nicht freundlich sein, entlastet aber jeweils die in beiden Fällen die über Gebühr beanspruchte Halswirbelsäule.