»Speerspitze des Neoliberalismus«

Die Sozialstaatsreformen à la Hartz IV bewirken, dass Freie Theater und Schauspieler

wirtschaftlich zu Gegnern werden - obwohl sie im selben Berufsfeld arbeiten

Zunächst blieb für Melanie Demandt (Name von der Redaktion geändert) alles beim alten. Im November hat sie ihren Antrag auf Arbeitslosenhilfe gestellt, nur dass es jetzt Arbeitslosengeld II (ALG II) heißt. Seit Jahren pendelt die junge Schauspielerin und Regisseurin zwischen Theaterprojekten, Unterricht an einer Schauspielschule und Arbeitslosigkeit. Ein normaler Zustand in der Freien Szene, auch für jemand, der wie sie erfolgreich ist. Ihr Vorteil: Die frühere Festanstellung an einem Stadttheater verhalf ihr bisher immer wieder zu Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosenhilfe. Dies wird mit den Hartz-Neuerungen nun schwieriger.

Jeden zweiten Tag Arbeit? Für Schauspieler utopisch

Arbeitslosengeld I (Hartz III) erhält demnach nur, wer für einen Zeitraum von zwei Jahren 360 sozialversicherungspflichtige Arbeitstage nachweisen kann, sprich: alle zwei Tage gearbeitet hat. Für Schauspieler ist die neue Forderung utopisch, betont Johannes Klapper, der Leiter der Zentralen Bühnen-, Fernseh- und Filmvermittlung (ZBF): »Es gehört zum Schauspielerberuf dazu, nicht lange in einer Stelle zu bleiben, es ist sogar notwendig, um sich weiterzuentwickeln«. Für Mitarbeiter der Freien Szene oder von Film und Fernsehen gehören kurzfristige Ausfallzeiten – und sei es nur das Warten auf den nächsten Dreh- oder Probenbeginn – zur Normalität. Da Schauspieler als »abhängig Beschäftigte« (also nicht als Selbständige) gelten, melden sie sich zwischendurch arbeitslos, auch um Versicherungsschutz und Rentenansprüche nicht zu verlieren.

Sozialfälle in Panik

Doch von ihren Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung werden sie nichts sehen, weil sie nach der Neuregelung wie Melanie Demandt als Sozialfall ins so genannte Arbeitslosengeld II (nach Hartz IV: die zusammengelegte Arbeitslosen- und Sozialhilfe) abrutschen. Und da wird es eng.
345 Euro gibt es pro Monat plus Kinder- und Wohngeld. Doch werden Lebensversicherungen, Ersparnisse (sofern sie 200 Euro pro Lebensjahr übersteigen), Bausparverträge oder etwaige Verdienste des Partners angerechnet. Außerdem müssen Arbeitslose »zumutbare« Jobs annehmen, auch wenn die nichts mit ihrem Beruf zu tun haben. Seitdem kursiert das Bild vom Park kehrenden Schauspieler, was Johannes Klapper wiederum für Panikmache hält. Zwar bemerkt auch er die verstärkte Nachfrage nach Festengagements oder die Bereitschaft, schlecht bezahlte Stellen anzunehmen, doch für Hysterie bestehe kein Anlass.

Theater sparen sich Sozialversicherungsbeiträge

Seit Jahren betreiben Kulturinstitutionen das Outsourcing von Autoren, Designern, Schauspielern, Musikern, die dann auf Honorarbasis wieder beschäftigt werden. Die Freien Theater und Gruppen geben sich dabei die Rechtsformen eines »eingetragenen Vereins« (e.V.) oder einer »Gesellschaft bürgerlichen Rechts« (GbR). Manchmal erhalten nur die Produktionen diesen Rechtstitel. Mitwirkende werden so zu Gesellschaftern, an die der »Gewinn« der Produktion ausgeschüttet wird. Das spart dem Theater die lästigen Sozialversicherungsbeiträge und verlagert das Risiko auf die Schauspieler. Nach Meinung einer Berliner Szenegröße sind die Freie Theater und Gruppen damit zur »Speerspitze des Neoliberalismus« geworden. So richtig diese Einschätzung ist, freiwillig haben sie sich dazu nicht entschlossen.
Die Gründe liegen einmal in der chronischen Unterfinanzierung der Szene. Von Kölner Theatern und Gruppen ist zu hören, dass vor allem diese dazu zwingt, den rechtlich zulässigen Raum bis zur Grenze auszuloten. Zum anderen kämpft man mit dem Widerspruch, dass die Bundesregierung Schauspieler als abhängig Beschäftigte definiert. In der Realität agieren sie aber häufig als Selbständige und finden Aufnahme in die Freiberuflern vorbehaltene Künstlersozialkasse (KSK).

Künstlersozialkasse von Reformen mitbetroffen

Wie die Kölner Schauspielerin Evelyn Tzortzakis, die vor zwei Jahren ihre Schauspielausbildung abgeschlossen hat und seitdem in Produktionen des Freien Werkstatt Theater und des INTEATA spielt. Sie liebäugelt mit dem Film, manchmal muss sie noch kellnern, aber insgesamt schätzt sie ihre Selbständigkeit. Und das völlig legal, wie Marita Musewald von der Grundsatzabteilung der KSK bestätigt. Bei entsprechenden Nachweisen sei eine Aufnahme problemlos. Nicht zuletzt habe man aus der eingeklagten Mitgliedschaft zuvor abgelehnter Antragsteller gelernt. Kenner wissen allerdings, dass die Praxis nicht ganz so einfach aussieht.
Die KSK ist nämlich infolge eines enormen Mitgliederzuwachses durch das Outsourcing in erhebliche Finanznöte geraten. Nun will sie die »Erfassung abgabepflichtiger Unternehmen« erheblich verschärfen und die Beiträge erhöhen. Und da beißt sich die Theater-Katze in ihren GbR-Schwanz: Die Freien Gruppen und Theater machen Schauspieler zu Selbständigen, diese treten in die KSK ein und die KSK fordert von den Freien Theatern wieder höhere Beiträge.

So notwendig die Hartz-Regelungen sind und so fraglich Ausnahmen für Schauspieler wären (wie sie die Gewerkschaft ver.di und der »Verband der Schauspieler-Agenturen« fordern): Es steht zu befürchten, dass die Reformen die Freie Szene erheblich umkrempeln werden. Für viele freie Darsteller, Gruppen und Theater dürfte sich diese neuerliche ökonomische Schraubendrehung schlicht zur Existenzfrage ausweiten.