Emotionale Kraftfelder

Das Kölner a.tonal.theater spaltet das Publikum: Formalistisch-kalt sagen die einen, eine subtile Geometrie der Gefühle erkennen die anderen. Hans-Christoph Zimmermann stellt die Arbeit der Freien Gruppe um den Regisseur Jörg Fürst vor

Hinter drei Objekten, einem taillierten Zylinder, einem Mensch-ärgere-dich-nicht-Stein und einer großen Eins, lugen drei Gestalten hervor. Sichtbar sind nur ihre Oberkörper und die maskenhaft weißen, kräftig konturierten Gesichter. Mit lustvoller Blasiertheit rezitieren sie im Dialog Gedichte von Ernst Jandl. Dabei giften sie sich an, umschmeicheln sich dann wieder oder mimen die Unbeteiligten. Drei artifizielle Lyrikdandys, die unter dem merkwürdigen Titel »Wualitzaaa« sehr unterhaltsam Sprachakrobatik betreiben. Ausgedacht hat sich das die Freie Gruppe a.tonal.theater.

»Riesenkasperletheater«

Seit vier Jahren arbeitet die Truppe um Regisseur Jörg Fürst in Köln und wurde mit »Wualitzaaa« 2002 für die »Impulse«, dem Best-of-Festival des Freien deutschsprachigen Theaters, nominiert und zuletzt beim Dortmunder »Theaterzwang-Festival«, dem NRW-Pendant zu den Impulsen, ausgezeichnet. Dabei macht a.tonal es den Betrachtern nicht leicht, ästhetisch sitzen sie zwischen allen Stühlen. »Man sieht falsch, wenn man unsere Stücke als reines Schauspiel betrachtet, das sind Arbeiten, die sich auf der Grenze zum Musiktheater, zur Installation bewegen«, sagt Jörg Fürst im Gespräch. Die Umsetzung von Lyrik in Theater könne man geradezu als Markenzeichen betrachten.
Grenzüberschreitungen funktionieren nie nur in eine Richtung. So hat es sich a.tonal nicht nehmen lassen, mit »Nacht:gier« nach Sarah Kanes »Gier« und »Die Eingeborene« von Franz Xaver Kroetz Schauspiele als Folgeproduktionen herauszubringen. Doch sie sahen nicht aus wie Schauspiele. In »Nacht:gier« sah man vier kahlköpfige, uniformierte Schauspieler in streng abgezirkelten Arrangements vor einem exquisit beleuchteten Hintergrund. Für Kroetz’ so genanntes »Riesenkasperletheater« experimentierte das Team mit großen Schwellköpfen auf einer Puppenspielbühne.

Kraftfelder aus Gefühlen

Will man das Bühnengeschehen in a.tonal-Produktionen stilistisch beschreiben, fallen einem Attribute wie formal und abstrakt ein. Jörg Fürst kennt das Vorurteil, hat aber auch schon Begriffe wie zärtlich oder leise gehört. Diese Ambivalenz hat damit zu tun, dass a.tonal-Abende versuchen, »eine eigene Bühnenwirklichkeit zu schaffen, die eigene Gesetze hat und der Alltagswirklichkeit gegenübertritt«. Gerade weil viele Theatertexte sich großen Themen wie Tod oder Geburt widmeten, bestehe die Gefahr der Verkleinerung, meint Fürst. Deshalb suche er einen authentischen Ausdruck, der »den Texten ihr Eigenleben lässt und sie nicht über Interpretation und Gestaltung zu etwas anderem macht«.
Tatsächlich lassen sich in »Nacht:gier« oder »Wualitzaaa« kaum Gesten aus dem alltäglichen Leben finden. Die Schauspieler bewegen sich in Zeitlupe, agieren frontal ins Publikum und wirken wie willenlose Solitäre in Kraftfeldern aus Gefühlen. Handlung im traditionellen Sinn gibt es kaum, der Text wird zur Sprachpartitur. Jörg Fürst konkretisiert: »Emotionalität wird nicht auf den psychologischen Nachfühlvorgang des Schauspielers beschränkt, sondern in den Raum, eine Farbigkeit, in Tempi übersetzt.«
Das führt ins Zentrum der a.tonal-Ästhetik: Die Hierarchie der Theatermittel ist aufgehoben. Darsteller, Licht, Musik und Bühne verschmelzen zu einer Einheit. »Es geht darum, vom dominierenden Individuum wegzukommen«, sagt Jörg Fürst und will die Idee der gleichberechtigten Theatermittel auch politisch verstanden wissen.

Schauspielerische Herausforderung

A.tonal reiht sich damit in eine seit gut zwei Jahrzehnten andauernde Entwicklung ein, die gängige dramatische Kategorien wie Handlung, Figur, Zeit und Ort immer weiter in Frage stellt. Der Frankfurter Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann hat das vor einigen Jahren auf den Begriff vom »postdramatischen Theater« gebracht.
Für die Schauspieler ist so etwas eine Herausforderung. Christine Stienemeier, die parallel zu ihrem a.tonal-Engagement vier Jahre in der »Lindenstraße« mitgewirkt hat, bekennt, dass es »unheimlich anstrengend ist, diese starke Innenwelt wachzuhalten, parallel zu der total formalen Bewegung.« Hilfreich sei dabei vor allem der Zusammenhalt der Truppe. Neben Jörg Fürst als Regisseur gehören zum Kern des a.tonal.theater die Bühnen- und Kostümbildnerinnen Christina Wachendorff und Anja Callam, Lichtdesigner Lothar Krüger, Musiker Markus Berger, Dramaturg Götz Leineweber sowie die Schauspieler Christine Stienemeier, Alexe Limbach und Christof Hemming. Standorte von a.tonal sind Köln und Berlin, ein Brückenschlag, der auf die Entstehung der Truppe hinweist: Kennen gelernt hat sich das Team am Schauspiel Bonn und bei Achim Freyers »Hamlet«-Produktion am Berliner Ensemble, wo einige spätere Mitglieder als Assistenten arbeiteten. Die Produktionen »Lauter leise Leute« und Becketts »Das letzte Band« wurden zu Probeläufen gemeinsamer Arbeit. Im Winter 2001 konstituierte sich a.tonal als Gruppe und begann in einer kalten Fabrikhalle mit den Proben zu »Wualitzaa«. Böse Stimmen behaupten bis heute, die Produktion sei deswegen so statisch, weil die Schauspieler damals festgefroren seien.

»Geometrie der Liebe«

Inzwischen hat sich a.tonal zu einer festen Größe der Kölner Szene entwickelt. Mit der bislang letzten und aktuellen Produktion »Solarplexus«, die Gedichte von Albert Ostermaier mit einem Liedzyklus des zeitgenössischen Komponisten Moritz Eggert kombiniert, ging man einen Schritt weiter in Richtung Musiktheater. Liedgesang und theatralisierte Lyrik überlagern sich zu einem vielfarbigen Gebilde aus wechselnden Gefühlszuständen. Auf der Bühne: drei Figuren und drei Quader, die dem Ostermaierschen Beziehungsgeflecht zwischen einem Mann und zwei Frauen in immer neuen Konstellation Kontur verleihen; seitlich dazu ist der Bariton Fabian Hemmelmann platziert. In lebendigem Wechsel kommentieren sich lyrisch-kühle Statements und der emotionale Gesang gegenseitig und verdichten sich zu einer »Geometrie der Liebe«, wie die Kritikerin Sandra Nuy schrieb.
Einen wichtigen Schritt machte die Gruppe noch auf einem anderen Terrain. Jeder weiß inzwischen, dass in Köln derzeit weder ein Theaterhaus für Freie Gruppen, noch eine Förderung nach Maßgabe der Qualität politisch durchsetzbar sind. Auch deshalb hat sich a.tonal mit den Gruppen anthroTM, Theater51grad.com und Futur3 zur »Freihandelszone« zusammengeschlossen, einem »Ensemblenetzwerk«, das Aktivitäten bündelt, gemeinsame Interessen vertritt oder ein gemeinsames Festival wie die Zonale/05 in diesem Monat organisiert. Jörg Fürst sieht einen klaren Funktionsunterschied zu Freien Kölner Theaterhäusern wie dem Keller-, Bauturm- oder dem Sachsenring-Theater. Während diese eher für ein breites Publikum produzierten, seien Freie Gruppen und ihre »forschende, experimentierende Ensemblearbeit darauf angelegt, eine bestimmte Anzahl von Vorstellungen in Köln zu spielen und dann die Stadt auswärtig, auf Festivals, bei Gastspielen zu repräsentieren.« Darüber herrsche in Köln noch nicht genügend Klarheit.
So experimentell sich a.tonal sieht, das nächste Stück könnte zum populären Renner werden. Im Oktober bringt die Gruppe Marc Beckers Fußballstück »Wir im Finale – ein deutsches Requiem« heraus. Darin geht es um das Thema »deutsche Identität«, allerdings in Form von Schlachtgesängen, Stoßgebeten und fußballerischen Konfessionen. So könnten die avantgardistischen a.tonalen am Ende noch zum offiziellen Vorbereiter der WM werden.

»Solarplexus – neue dichter lieben«, nach Albert Ostermaier und Moritz Eggert, R: Jörg Fürst, Alte Feuerwache, 9.,10., 12.,13.3., 20 Uhr, 11.3., 20.30 Uhr.

Weitere a.tonal.-Termine im Rahmen des Festivals ZONALE/05. Programm / Karten: www.freihandels zone.org oder Tel.: 0221 / 985 45 20.