Die Erfindung des Trostes

Wilhelm Genazino wurde letztes Jahr genauso überraschend wie verdient mit dem wichtigsten deutschen Literaturpreis ausgezeichnet, dem Büchner-Preis. Thomas Blum sagt warum und stellt seinen neuen Roman »Die Liebesblödigkeit« vor

Wenn Sie deutsche Gegenwartsliteratur lesen, haben Sie die Wahl: zwischen moralinsaurer Bedenkenträger- und Schnauzbartliteratur und der dilettantischen Befindlichkeitsprosa der so genannten Jungautoren, die sich nicht scheuen, mit jeder ihrer Publikationen ihre beängstigende Armut an Sprachgewandtheit auszustellen. Darüber hinaus können Sie sich entscheiden zwischen einem kitschanfälligen Peter Handke und dem dauerheideggernden Botho Strauß. Das ist die trübselige Wirklichkeit.
Auch wer den wichtigsten deutschen Literaturpreis, den Büchner-Preis, zugesprochen bekommt, erhält ihn gewöhnlich nicht für sein außergewöhnliches schriftstellerisches Œuvre. Eher als eine Art späten Dank für seine Medienbetriebsnudeligkeit und seine Willfährigkeit, alle Jahre einen sozialdemokratischen Besinnungsaufsatz oder einen dicken Schwerbedeutsamkeitsschinken abzugeben.

Kontinuierlich auf hohem Niveau

Nun hat im vergangenen Jahr überraschend Wilhelm Genazino diesen Literaturpreis erhalten, dabei ist er doch die große Ausnahme. Allein deshalb, weil er ein ausgesprochen uneitler Mensch ist. Nach wie vor begreift er sich als »randständigen Autor«, der plötzlich »durch allerlei Ehrungen ins Zentrum geschubst worden« sei, wie er sagt. Mehrere Stunden am Tag bringt er mit der Lektüre vergessener Schriftsteller zu, mehrere Stunden arbeitet er an einem eigenen Buch. So absolviert er nicht nur seit Jahrzehnten, von einer größeren Öffentlichkeit unbemerkt, kontinuierlich auf hohem Niveau sein literarisches Programm. Er beschreibt überdies mit jedem seiner Bücher aufs neue »die deutsche Wirklichkeit zum Fürchten gut«, befand Die Zeit letztes Jahr, und das ist ausnahmsweise die reine Wahrheit.
Seit den 70er Jahren existierte Genazino als Schriftsteller mit seinen sonderbar scheiternden Helden, die mit der Ödnis des bundesrepublikanischen Alltags nicht zurechtkommen, nur im Bewusstsein einer überschaubaren Lesergemeinde. Dreißig Jahre lang war er, ähnlich wie Eckhard Henscheid, Opfer einer ihn missverstehenden oder ignorierenden deutschen Literaturkritik, derzufolge Komisches nicht beanspruchen darf, Kunst genannt zu werden. Oder das Komische an seiner Prosa wurde gar nicht erkannt und begriffen. Dennoch schrieb er seinen eigentümlichen ironischen Realismus bis heute fort. »Die Wirklichkeit ist ja eine willkürliche Ansammlung von Fehlern – wie wir auch«, hat Genazino einmal in einem Interview gesagt. Es gibt so viele schöne Sätze von ihm.

»...und schwirren ab.«

Im Mittelpunkt seines soeben erschienenen neuen Romans »Die Liebesblödigkeit« steht ein melancholischer, leicht hypochondrisch veranlagter abgerissener Akademiker und alternder Junggeselle, der als Vortragsreisender in Sachen Apokalypse durch diverse Tagungshotels tingelt, wo er über den »Unterhaltungsfaschismus« der Massenmedien referiert. »Die Apokalypse ernährt ihren Mann, obgleich ich mir große Ansprüche an den Lebensstandard oder teure Hobbys nicht leisten kann.«
Lange schon lebt er zwischen zwei Frauen, die jeweils nichts von der Existenz der anderen wissen. Von der einen, der eher lebenspraktisch veranlagten 43-jährigen Sandra, lässt er sich bemuttern und umsorgen. »Wir sind in einem Alter, in dem man manchmal vögelt, um hinterher schnell einschlafen zu können«, sagt er. Die andere ist die 51-jährige Judith, eine kunstbeflissene ehemalige Konzertpianistin. »Judith und ich führen zuweilen kleine sinnlose Unterhaltungen, die uns deutlich machen, dass wir in zufriedener Stimmung sind.«
Genazinos Sujets sind aber nicht nur die Vergeblichkeit der Liebe, die Flüchtigkeit und Gewöhnlichkeit der Sexualität und das Altern, sondern wie immer auch die seltsame Anstrengung des Lebens überhaupt, durch das sein Held sich treiben lässt: »Ich empfinde derart stark die universale Unerlöstheit der Menschen, dass ich Lust verspüre, aufzustehen und den paar Leuten und Kindern ringsum mein Bedauern auszusprechen.« Sein Balkon, den er schon lange nicht mehr betritt, wird von Tauben bewohnt, die er betrachtet mit dem Blick des vom Alltag überforderten und müde gewordenen Träumers: »Dann drücken sie ihre hübschen weißen Scheißespritzer auf den Boden des Balkons und schwirren ab. Ich sehne mich kurz danach, selbst ein Vogel zu sein und Scheißen und Verschwinden genauso elegant miteinander verbinden zu können wie sie.« Er möchte entkommen aus seinem Leben mit zwei Frauen, aber im Grunde auch aus allem anderen.

Verhangene Gesichter

Mit den Augen dieses durch die Stadt streunenden Helden und Erzählers lernen wir das in Genazinos Werk stets präsente, skurrile Figurenensemble kennen. Die Nachbarin etwa, die »gegen die Tauben auf ihrem Balkon kämpft«, was sie lange erfolglos »durch Zischen und ein klägliches Sch-sch-sch-Geräusch« versucht, bis sie schließlich dazu übergeht, »nasse Tücher nach den Vögeln« zu werfen. Und die jeden beargwöhnt, der die Tauben von seinem Balkon nicht vertreibt. Oder wir lesen vom »Postfeind« Bausback: »Er ist überzeugt, dass die Post wichtige Briefe an ihn entweder verschlampt oder vernichtet und sich dadurch an seinem Lebensglück vergeht. Bausback ist oft unterwegs, um der Post die Postvernichtung zu beweisen, aber es ist schwierig, die Post auf frischer Tat zu ertappen.« Wir sehen der Frau zu, die ihrem Ehemann die zum Kauf vorgesehene Schlafanzugjacke »auf die Vorderseite seines Oberkörpers legt« und die daraus resultierende »Lächerlichkeit, die der Mann in diesen Augenblicken sowohl erleidet als auch ausstrahlt«, nicht bemerkt.
Dem Autor Genazino aber entgehen diese und zahlreiche andere Lächerlichkeiten nicht. Seinen Helden lässt er über die Gewöhnlichkeit und Schäbigkeit des Treibens der Menschen berichten. »Mit verhangenen Gesichtern sitzen sie hinter einer Tasse Kaffee und bittern leise vor sich hin. Personen, die schon morgens zwei volle Plastiktüten herumtragen, wirken ordinär. Speckige Säuglingsbeine baumeln wie Weißwürste aus den Tragetüchern ihrer Mütter.« Man findet neben solchen Beobachtungen und Reflexionen über den Alltag aber auch Passagen über seine Vergänglichkeit und Schönheit. Wie stets erleben wir mit Genazinos Erzähler Szenen aus dem beschädigten Leben, doch sie sind durchwirkt von einer sanft die Heillosigkeit überstrahlenden Komik.

Vermeintlich schnöde Alltägliches

Der Literaturkritiker Helmut Böttiger beschrieb Genazinos Werk einmal folgendermaßen: »Es ist nach wie vor das Geheimnis, dass Genazino mit seinen Figuren wirklich das Elend der Existenz beschreibt, und man das Buch zuklappt und das Gefühl hat: Es lohnt sich weiterzuleben.« Es ist zu hoffen, dass Genazino sich auch künftig nicht nur um »das sich fortlaufend selbst verfehlende Leben« kümmern wird, sondern auch um den »Trost, der sich darüber erfinden muss«, wie er sagt.
Würden Genazinos Erzählungen und Romane, in denen man nicht das geringste Pathos findet, heute verfilmt, wünschte man, Jaques Tati lebte noch und hätte Gelegenheit dazu. Den liebevollen Blick fürs absonderliche Detail im vermeintlich schnöde Alltäglichen, das ahnungslos träumerische Solipsistentum inmitten einer rastlosen Betriebsamkeit und die Neigung zu einer mit unerschütterlicher Langsamkeit zelebrierten Komik hätten beide gemeinsam.
In Deutschland kann der stille Humorist Genazino, neben ähnlich still vor sich hin arbeitenden Genies wie dem unvergleichlichen Ror Wolf, als einer der wenigen Autoren gelten, deren Werk Dauer beanspruchen darf. Dass Franz Kafka einer seiner Lieblingsautoren ist, überrascht nicht. In den Weiten des Internets lässt sich irgendwo die folgende Bemerkung eines Lesers finden: »Trotz italienischem Namen ist Genazino ein superguter deutscher Schriftsteller.« So kann man’s auch formulieren, wenn man denn unbedingt will.
Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit. Hanser Verlag, München 2005, 203 S., 17,99 €.
Lesung: Genazino liest im Rahmen der lit.Cologne am 17.3., 21 Uhr im Wallraf-Richartz-Museum (Mod.: Hajo Steinert, DLF).